Reinhold Beckmann: «Das Gute war, meine Mutter hat über den Krieg gesprochen»

Sie hiessen Franz, Hans, Alfons und Willi und waren im Hause Beckmann allgegenwärtig: Die Mutter hat aus den Fotos ihrer Brüder eine Collage anfertigen lassen und diese in mehreren Zimmern aufgehängt. 

«Als kleiner Bengel war das eher beängstigend», sagt Reinhold Beckmann (68). «Später war es schön zu wissen: Das sind meine vier Onkel, die ich zwar nie kennenlernen durfte, gleichwohl sind sie präsent und gehören zur Familie.» Insbesondere auch, weil die Mutter regelmässig von ihnen erzählt und die Erinnerung an sie wachgehalten habe.

Feldpostbriefe im Schuhkarton

Beckmanns Mutter Aenne kommt 1921 in Wellingholzhausen am Rande des Teutoburger Waldes zur Welt. Ihre Mutter stirbt noch im Wochenbett, ihr Vater, als sie vier ist. Sie wächst bei Stiefeltern auf, der Stiefvater betreibt eine Schusterwerkstatt, die Stiefmutter kümmert sich um Haus und Kinder.

Mit 13 Jahren ist Aennes Schulzeit vorbei, sie kommt in Stellung zu einem Bauern, später arbeitet sie in der Küche eines Knabeninternats. Ihre vier Brüder, denen sie herzlich zugeneigt ist, fallen alle im Krieg. Was bleibt, sind Erinnerungen und rund hundert Feldpostbriefe, die Aenne in einem Adidas-Schuhkarton bis kurz vor ihrem Tod auf dem Klavier im Wohnzimmer aufbewahrt.

«Mach was draus!»

2019 stirbt sie hochbetagt 98-jährig. Wenige Tage zuvor übergibt sie ihrem Sohn Reinhold den Schuhkarton mit den Feldpostbriefen und sagt: «Mach was draus!»

Als erstes schreibt er das Lied «Vier Brüder» und singt es zusammen mit seiner Band unter anderem im November 2021 am Volkstrauertag im Deutschen Bundestag. Danach kommen mehrere Buchverlage auf ihn zu. «Sie haben mich auf dem richtigen Fuss erwischt, denn ich wusste, ich muss dieses Buch schreiben.»

Die lange Recherche

Es folgt eine lange Recherche. «Ich war monatelang immer wieder im Dorf, habe lokale Historiker getroffen und mit vielen älteren Menschen gesprochen. Ich war in einigen Bibliotheken und habe mir die Feldberichte der entsprechenden Divisionen ergattert, um zu wissen, was mit meinen Onkeln passiert ist.» 

Über die drei Älteren sagt Beckmann im Podcast «Laut + Leis»: «Franz war innerlich ein Verweigerer des Krieges. Hans hat sich schon vor dem Krieg für zwölf Jahre verpflichtet, weil er vom wirtschaftlichen Aufstieg träumte. Für Alfons war der Krieg zunächst ein Abenteuerspielplatz, er konnte den Führerschein machen und durfte das Auto seines Truppenführers lenken.»

Doch alles habe sich verändert, als die drei nach Russland mussten. «Da verändert sich auch die Tonart der Briefe.» Franz beispielsweise schreibt: «Wann fliegt der Schwindel hier eigentlich auf? Wann hat dieses Elend endlich ein Ende? Ich habe die Nase gestrichen voll.»

Ein Rädchen des NS-Systems

Die vier Brüder waren Opfer und Täter zugleich. «Wir wissen seit der Wehrmachtsausstellung, dass die Wehrmacht nicht nur in Polen einmarschiert ist, sondern der SS auch organisatorische Hilfe geleistet hat, als diese dann in die Städte und Dörfer ging, um die jüdische Bevölkerung abzuführen und zum Teil auch direkt zu erschiessen.»

Das heisse, dass auch seine Onkel etwas gesehen haben müssen, sagt Reinhold Beckmann. Auch wenn sie nicht darüber schrieben. Und zitiert den Militärhistoriker Sönke Neitzel von der Universität Potsdam, der das Manuskript durchgeschaut und ihm bestätigt hat: «Krieg ist nicht in Schwarz und Weiss einzuteilen. Es ist klar, da kommt niemand mit einer weissen Weste raus.» 

Daraus folgert Beckmann: «Auch meine Onkel waren ein Rädchen im NS-System, selbst wenn sie nicht in der Partei und keine Nazis waren.»

Die Rolle der Kirchen

In seinem Buch geht Beckmann auch der Frage nach, wie sich die Kirchen während des Zweiten Weltkriegs verhalten haben. Die Bevölkerung des tiefkatholischen Wellingholzhausen machte das Kreuzchen mehrheitlich noch lange bei der christlichen Zentrumspartei, während in den benachbarten Städten Osnabrück und Melle bereits die NSDAP am Ruder war.

«Wellingholzhausen steht beispielhaft für viele kleine Gemeinden», sagt Beckmann. «Die Menschen wussten, wenn die Nazis sich hier breit machen, dann wird das unser gläubiges Leben verändern.» Und so sei ist es dann auch gekommen: Die Nazis haben die Wahlplakate der anderen Parteien überklebt, Konflikte geschürt und den Priester vor Ort mehrfach ermahnt und mit Strafgeldern belegt.» Schliesslich sei der Schuldirektor ausgetauscht worden, und das habe dann dazu geführt, dass Dinge sich definitiv geändert haben.

Klassenfeind Bolschewismus

Zur Rolle der Kirchen sagt Beckmann: «Die evangelische Kirche hat sich frühzeitig in den Schoss der Nazis gelegt. Auch die katholische Kirche hat sich von Hitler verführen lassen.» 

Beispielhaft zeigt er das im Buch an Bischof Berning aus Osnabrück. «Er hat sich ködern lassen, indem man ihm ein paar Machtpositionen angeboten hat. Das ist etwas, was Hitler und sein Team ganz geschickt betrieben haben. Der gemeinsame Klassenfeind hiess Bolschewismus, und den musste man bekämpfen.» 

Ungebrochene Lebenskraft

Zurück zu Mutter Aenne. Über sie schreibt Beckmann: «Sie war eine leidenschaftliche Katholikin und lebte nach dem Grundsatz: Der Herrgott wird’s schon richten.» Nur eines habe sie ihrem Herrgott nie verzeihen können: dass er ihr die vier Brüder genommen hat. Da habe sie gehadert und tüchtig geschimpft.

«Das Gute war, meine Mutter hat im Unterschied zu den meisten anderen über den Krieg gesprochen. Sie hatte eine ungebrochene Lebenskraft und eine Zugänglichkeit, die war einfach schön.» Wenn er als Teenager ein paar schräge Vögel heimbrachte, habe sie das nicht nur ausgehalten. Die Leute seien immer herzlich willkommen gewesen.

«Meine Mutter hatte eine Neugierde und eine Sehnsucht nach wirklichem Leben. Das hat sie ausgezeichnet und machte sie tolerant», sagt Reinhold Beckmann. Mit diesem Buch hat er ihr und ihren Brüdern ein berührendes Denkmal gesetzt und ein Stück Zeitgeschichte geschrieben. (kath.ch)

Das Buch: Reinhold Beckmann: Aenne und ihre Brüder. Die Geschichte meiner Mutter. Propyläen-Verlag, 352 Seiten.