Schwerpunkt

Vergessene Sünde

von Urban Fink-Wagner

Im Kirchenjahr feiern wir das Geheimnis Christi, von der Menschwerdung bis zur Sendung des ­Heiligen Geistes und der Erwartung der Wiederkunft des Gottessohnes. Die Mitte ist dabei der Tod und die Auferstehung Jesu Christi. Zwei geprägte Zeiten, der Weihnachtsfestkreis und der ­Osterfestkreis, dienen mit dem Advent und der Fastenzeit dazu, sich auf die Menschwerdung und die Erlösung Christi vorzubereiten. Der Advent als Zeit der auch innerlichen Vorbereitung auf das Weihnachtsfest wird heute meistens durch Weihnachtspathos überlagert, womit das adventliche Warten auf Weihnachten in den Hintergrund gedrängt wird. 

Im Tessin werden in den Pfarreien, die ­früher zum Bistum Mailand gehörten und deswegen bis heute die ambrosianische Liturgie feiern, nach dem Martinstag (11. November) sechs Adventssonntage gefeiert. Da die Samstag und Sonntage als fastenfrei gelten, dauert diese Zeit der Vorbereitung auf Weihnachten vierzig Tage, also gleich lange, wie die Fastenzeit vom Aschermittwoch bis Ostern. Das «Martinifasten» ab dem 11. November galt als Zeit der Busse und der Vorbereitung auf das Weihnachtsfest. Im allgemeinen römischen Kirchenkalender, der auch für uns gilt, haben wir die vierwöchige Adventszeit. Dass diese Zeit für Christinnen und Christen durch Fasten oder zumindest durch eine bescheidenere Lebensweise gekennzeichnet sein soll, war früher selbstverständlich, allein schon deswegen, weil in der Winterzeit in einer landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft weniger Lebensmittel zur Verfügung standen als heute. In der Advents- und Fastenzeit wurde früher vor den zwei wichtigsten Festen im Kirchenjahr auch die Beichte abgelegt.

Überfluss statt Fasten
Heute sieht es anders aus. Die Vorweihnachtszeit ist in der modernen Gesellschaft nicht durch Kargheit, sondern durch Überfluss gekennzeichnet. Weihnachten ist – etwas salopp ausgedrückt – ab Ende Oktober vor allem das Hochfest des Einzelhandels mit verkaufsförderndem weihnächtlichem Pathos weit vor dem eigentlichen Fest. Der evangelische Theologe und Journalist Matthias Morgenroth spricht in diesem Zusammenhang von einem «Weihnachts-Christentum», das keine Glaubensreligion ist und nicht auf das Christusbekenntnis baut, sondern auf weihnächtliche Stimmung. Da hat das sperrige Glaubensgeheimnis von Kreuz und Auferstehung Christi, für das Weihnachten die Voraussetzung ist, keinen Platz. Das Weihnachtsfest wird von vielen begangen, aber die Identität des Festes und die damit verbundenen Inhalte sind unverbindlich und schwach geworden. Die so entstehenden Lücken werden mit neuen Inhalten gefüllt. 

Warentausch statt Heilstausch
In einer Welt des Überflusses ist Weihnachten mit den vielen Geschenken zum grossen Warentausch geworden, wobei leicht vergessen geht, dass es auch in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die unter dem Existenzminimum oder in beengten wirtschaftlichen Verhältnissen leben müssen.

Die Gefahr ist gross, dass der Warentausch den mit dem christlichen Weihnachtsfest verbundene «Heilstausch» überdeckt. Gott wird an Weihnachten Mensch, ja liefert sich im kleinen Jesuskind den Menschen aus, damit der Mensch göttlich werden kann, wo Gott uns mit der Geburt seines Sohnes Friede und Heil schenkt. Gott heilt und repariert mit der Geburt seines Sohnes eine friedlose Welt, beschädigte Beziehungen und schwierige Zustände. Paulus drückt das so aus: «Denn ihr wisst, was Jesus Christus, unser Herr, in seiner Liebe getan hat: Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen» (2 Kor 8,9). Papst Gregor der Grosse formulierte darauf aufbauend: «Christ, erkenne deine Würde! Du bist der göttlichen Natur teilhaftig geworden, kehre nicht zu der alten Erbärmlichkeit zurück und lebe nicht unter deiner Würde. 

Unschuld statt Besinnung, Reue und ­Bekenntnis
Nachdenken, Reue, Bekenntnis und Beichte jedoch haben heute einen schlechten Ruf – zum Teil auch deswegen, weil einzelne Geistliche das wichtige Beichtsakrament bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus durch geistliche Übergriffe missbraucht haben.

Der bekannte, leider viel zu früh verstorbene deutsche Moraltheologe Eberhard Schockenhoff stellte in seinem lebenspraktischen Buch «Gewissen. Eine Gebrauchsanweisung» (Verlag Herder, 2009) fest, dass das Wort Reue aus unserer Alltagssprache nahezu verschwunden ist: «Für persönliches Versagen die Verantwortung zu übernehmen, fällt jedoch schwer. Wenn wir den Partner verletzt, über Nachbarn böse Gerüchte gestreut oder die Kinder zu Unrecht bestraft haben, herrscht auf unserem Verschiebebahnhof Hochbetrieb. Es rollen ein: die Umstände, die Familiengeschichte, die Gene, das Wetter, das Fernsehen, die Gesellschaft, die andern mit ihrem schlechten Beispiel (…). Auf diesem Verschiebebahnhof wurde die Vergebung ausrangiert» (Schockenhoff, Gewissen, S. 190). Die heutige Gesellschaft ist oft hypersensibel, ja übermoralisch, solange es nicht die eigene Person betrifft. Sie liefert gerne Leute auf die mediale Schlachtbank und sucht Sündenböcke, ohne in den eigenen Spiegel zu schauen.

«Wenn Umkehr Freude schenkt»
Der Schweizer Jesuitenpater Hans Schaller plädiert in seiner soeben erschienenen Einführung in die ignatianischen Exerzitien mit dem eindrücklichen und befreienden Titel «Wenn Umkehr Freude schenkt» (Verlag Herder, 2022) für eine andere Kultur. Er ermutigt uns, ins eigene Leben Ordnung zu bringen, Umkehr zu wagen sowie Nachlässigkeiten und Unterlassungen abzustellen. Das alles ist nur möglich, weil der liebende und barmherzige Gott bereit ist, sich unserer Fehler und Sünden anzunehmen. Wie wird unsere Schuld getilgt? Nicht durch das Interpretieren, nicht durch das Verschieben und auch nicht durch das Vergessen. Hans Schaller weist auf die meisterhafte Formulierung von C.S. Lewis hin: «Von Schuld werden wir dadurch befreit, dass wir von Jesus das Wort zu hören bekommen: ‹Lass das meine Sache sein!›» So wird Vergebung möglich, ohne dass vergessen oder verdrängt werden muss.

Der christliche Gott schenkt uns in Jesus an Weihnachten seinen eigenen Sohn, damit er den Menschen möglichst nahe ist. Gott nimmt auch uns wie den verlorenen Sohn in der Bibel (vgl. Lk 15,21) in seine barmherzigen Arme, richtet uns auf und lädt unsere Schuld auf sich, wenn wir ihn um Vergebung bitten. Wenn wir den Mut haben, uns zum kleinen Kind in der Krippe hinabzubeugen, wird Weihnachten möglich. «Dann wird Gott in uns geboren. Dann wird unser Leben neu, dann erscheint auch in uns die Güte und Menschlichkeit Gottes, unseres Heilands» (Anselm Grün).

Ich wünsche Ihnen und mir den Mut, in das eigene Leben hinabzusteigen und die kommenden Tage adventlich zu gestalten, damit es in uns Weihnachten werden kann.