Schwerpunkt

Ein Stück Unsterblichkeit

von Reto Stampfli

Die ersehnten Sommerferien bieten oft eine Lesezeit, die man sich durchs Jahr nicht gönnen kann. Eine literarische Reise durch die Welt, ganz ohne Flugkilometer oder lange Autofahrten. ­Dabei ­garantiert Lesen nicht nur einen Wissenserwerb, sondern liefert nicht selten eine Kraftquelle des Augenblicks. 

«Das Buch ist eine Lebensversicherung, eine kleine Vorwegnahme der Unsterblichkeit», wusste der italienische Semiotik-Professor und Autor Umberto Eco zu berichten. Literatur kann uns ganz nahekommen. Bücher bewegen uns, sie setzen uns in eine Zeitmaschine oder katapultieren uns rund um den Globus. Wir treffen auf wildfremde Menschen und schenken Unbekannten unsere Aufmerksamkeit. Die Themenvielfalt ist gross. Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller lassen sich von religiösen Themen inspirieren – und schreiben darüber. Hier eine kleine Auswahl:

BERLIN VON OBEN
Die im Mai 2023 überraschend verstorbene Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff beschäftigte sich in ihrem umfangreichen Werk intensiv mit existenziellen Themen. Ihr letzter Roman «Von oben» schaut auf Berlin – aus der Perspektive eines verstorbenen Philosophieprofessors, der als Geist in der Stadt herumschwebt und den Menschen beim Leben zusieht. Eine für Leserinnen und Leser ungewohnte Perspektive, die durchaus ihren Reiz hat. Der tote, aber eigentlich putzlebendige Gelehrte scheint sich irgendwo zwischen Himmel und Erde zu bewegen. Es liegt natürlich nahe, dass auf diesen Denkreisen auch theologische, existenzielle Fragen behandelt werden, letzte Fragen also. Aber das Entscheidende ist, wie das geschieht. Im Vordergrund steht immer die unbändige Wortlust der aus Stuttgart stammenden Autorin. Was zunächst wie eine religiös fundierte Versuchsanordnung anmutet, stellt sich bald als eine literarisch tiefschürfende Gegenwartsanalyse heraus. Der Roman besteht aus kurzen, skizzenhaften Kapiteln. Das ist zum Teil satirisch hinreissend, zu einem anderen Teil auch nachdenklich und fragend. Der abgründige Humor dieses literarischen Vermächtnisses ist einzigartig: nie pathetisch oder schwülstig, selbst wenn es um christliche Kabbalisten und die Macht von Jesusbildern geht.

Sibylle Lewitscharoff: Von oben. Suhrkamp Verlag 2019, 240 Seiten. ISBN 978-3-518-42893-1

MYSTISCHES IRLAND 
Das Übernatürliche spielt auch im Debütroman der irischen Schriftstellerin Doireann Ní Ghríofa eine wichtige Rolle: Sie versucht erzählend das Innenleben und die tiefe Verbundenheit zwischen zwei schreibenden Frauen aus zwei verschiedenen Epochen zu erkunden. Im 18. Jahrhundert trinkt eine irische Adelige, als sie erfährt, dass ihr Mann ermordet wurde, eine Handvoll seines Blutes und verfasst ein aussergewöhnliches Gedicht, das zum nationalen Mythos werden wird. Im 21. Jahrhundert entgeht eine junge Mutter nur knapp einer Tragödie und stösst auf ein Gedicht, das sie bereits als Schulkind gelesen hat. Besessen von den Parallelen zu ihrem eigenen Leben macht sie sich auf die Suche nach ihrer Seelenverwandten aus der Vergangenheit. Die in Galway geborene, in Gälisch wie Englisch schreibende Lyrikerin und Essayistin Doireann Ní Ghríofa verbindet in ihrem Roman zwei unterschiedliche Vitas und bietet einen faszinierenden Einblick in das Leben einer Frau aus dem 18. Jahrhundert.

Doireann Ní Ghríofa: Ein Geist in der Kehle. btb Verlag 2023, 384 Seiten. ISBN 978-3-442-76231-6

TÖDLICHES ROM 
Handfester geht es in «Dämonen im Vatikan» zu und her. Der Münchner Autor Stefan von der Lahr legt seinen dritten Krimi vor – eine gelungene Mischung aus Historie und Gegenwart. Wie in den beiden vorausgehenden Fällen ergänzt sich das ungleiche Ermittlerduo Commissario Bariello und Weihbischof Montebello ausgezeichnet. Als die Archäologie geheiligte Glaubensgrundsätze zu erschüttern droht, ruft sie Verteidiger auf den Plan, die vor nichts zurückschrecken. In einem Nebel aus Lügen, Intrigen und rätselhaften Todesfällen scheint ein unseliges Machtkartell auf dem Weg zum ewigen Heil sehr irdische Inte­ressen zu verfolgen. Commissario Bariello ist überrascht, als er im Hochsommer zu einem Toten gerufen wird, der offenbar erfroren ist. Vor einem Rätsel ganz anderer Art steht Sua Eccellenza Montebello, der Weihbischof von Neapel. Zum Geburtstag hat er ein kostbares Geschenk bekommen: eine einzigartige Ausgabe der Legenda Aurea – einst das meistgelesene Buch des Mittelalters mit vielen Heiligenlegenden. Doch sein Exemplar birgt zudem vier aussergewöhnliche Zeichnungen, die ein kirchenpolitisches Erdbeben im Vatikan auslösen könnten. Frei von Dan-Brown-Pseudo-Wissen entwickelt der promovierte Altertumswissenschaftler von der Lahr eine irritierende Szenerie, in der Realität und Fiktion auf Tuchfühlung gehen. 

Stefan von der Lahr: Dämonen im Vatikan. C.H.Beck Verlag 2023, 442 Seiten. ISBN 978-3-406-80002-3 

AMERIKA EINMAL ANDERS 
Ein schmerzhaft-schöner Familienroman führt uns ins ländliche Wisconsin. In Nickolas Butlers Roman werden die Macht und die Grenzen des Glaubens mit besonderem Feingefühl erkundet. Lyle und Peg ­Hovde geniessen ihr Grosselternglück. Gerade ist ihre alleinerziehende Adoptivtochter Shiloh mit dem fünfjährigen Isaac nach Wisconsin zurückgekehrt und die Familie zum ersten Mal seit Jahren wieder vereint. Doch es gibt einen Wermutstropfen, denn während ihrer Abwesenheit hat sich Shiloh einer radikalen Glaubensgemeinschaft angenähert. Nickolas Butler widmet sich mit grossem Einfühlungsvermögen einem hoch sensiblen Thema. Was darf der Glaube und welche Macht kann er entfalten? Wann muss man Menschen vor ihrem Glauben beschützen und kann das überhaupt gelingen? Michael Wiederstein bemerkt in seiner Rezension in der «NZZ am Sonntag» (23.02.2020) dazu: «Ein wenig Glaube (...) erzählt vom individuellen und gesellschaftlichen Spagat zwischen der Erinnerung eingeschönter Vergangenheit und der Antizipation prekärer Zukunft im ländlichen Amerika. Der Ton des Romans ist beinahe zärtlich. Und gerade weil der Name Trump in diesem Roman nicht fällt, ist rasch klar, dass man das Buch nicht nur als Dokument des Verschwindens vermeintlich amerikanischer Lebensweisen (...) lesen kann, sondern auch als politischen Kommentar zum Umgang mit ihrer Würde.»

Nickolas Butler: Ein wenig Glaube. Klett Cotta 2020, 382 Seiten. ISBN 978-3-608-96434-9 

AB INS PARADIES
Wenn ein Buch den Untertitel trägt: «Ökologie des Herzens», dann lässt das aufhorchen. Der katholische Theologe Johannes Hartl will seinen Lesern in seinem neuen Werk den Weg zurück in den paradiesischen Zustand weisen. Dabei hat er den gestressten postmodernen Menschen vor Augen, zerrissen zwischen Beruf und Elternschaft, zwischen Burn-out und Sinnsuche, überfordert von den Optionen der heutigen Welt, in der Gott keine grosse Rolle mehr spielt. Hartl schreibt in einer gut verständlichen Sprache und argumentiert interdisziplinär. Er liefert ein Plädoyer für Schönheit, für Genuss und Schöpfungskraft des Menschen, denn Kunst scheint für viele Christen ein vernachlässigbares Ding geworden zu sein. Hartl ist überzeugt, dass wir im Schönen die gottgegebene Kreativität, sei es durch Musik, Malerei oder Bauwerke, erblicken. Kritisch zu beurteilen sind seine immer wieder aufflackernde Fortschrittsskepsis und seine teilweise stereotypen Rollenbilder. Nichtsdestotrotz ist es «Eden Culture» wert, gelesen zu werden – in der Hoffnung, dass sich Christen und Kirchen neben der Theologie auch um die Kunst bemühen. Denn sie kann Gott in einer verwirrend komplexen Welt für das Herz sichtbar machen.

Johannes Hartl: Eden Culture. Ökologie des Herzens für ein neues Morgen. Herder Verlag 2023, 304 Seiten. ISBN: 978-3-451-03308-7

Viel Vergnügen beim Eintauchen in fremde Welten.