Schwerpunkt

Übertreiben die Katholiken mit ihrer Marienverehrung?

von Martin Gächter, em. Weihbischof von Basel                                                                     

Nicht nur evangelische Mitchristen, sondern auch Katholiken haben den Eindruck, dass bei der Marien­verehrung in der katholischen Kirche manchmal übertrieben wird. Heute werden grosse Marien­feste wie Mariä Himmelfahrt (15. August) an vielen Orten nicht mehr gefeiert. Dass Maria ­ihren Sohn Jesus als Jungfrau geboren hat, können nicht mehr alle glauben. Müsste die Kirche ­Christus – und nicht Maria – mehr verehren?

Christus, nicht Maria muss im Mittelpunkt stehen
Darin sind sich alle einig, dass Jesus Christus im Mittelpunkt unseres Glaubens stehen muss. Doch wer war Christus? Ein vorbildlicher Mensch? Ein religiöses Genie mit prophetischen und heilenden Begabungen? Konnte dieser Mensch zugleich auch Sohn Gottes sein? Diese wichtigen Fragen kann niemand so gut beantworten wie seine Mutter Maria. Denn nur sie kann wissen, dass ihr Kind Jesus nicht von einem Mann gezeugt wurde, sondern durch Gottes heiligen Geist (Lukas 1). Auch Josef, der Verlobte Mariens, wusste, dass er nicht der leibliche Vater von Jesus war. Er vermutete ja, dass Maria wegen eines anderen Mannes schwanger wurde. Er wollte Maria in aller Stille verlassen. Ein Bote Gottes, ein Engel, musste ihn aufklären, dass Jesus nicht durch einen anderen Mann gezeugt wurde, sondern durch die Kraft des Heiligen Geistes (Matthäus 1). Das ist eine unglaubliche Geschichte! Doch Maria und Josef glauben daran. Maria ist die erste gläubige Christin, die wusste, dass Jesus nicht ein normales Menschenkind ist, sondern zugleich Mensch und Gottes Sohn: mit Maria als Mutter und Gott als Vater. Später haben auch weitere Menschen hinter Jesu Reden und Wirken Gott entdeckt. Auch seine Jünger erkannten, was dann Petrus bekannte: «Du (Christus) bist der verheissene Messias, der Sohn des lebendigen Gottes» (Matthäus 14,16). Viele führende Juden konnten das aber nicht glauben und verurteilten Jesus als Unruhestifter und Verräter des jüdischen Glaubens. Wir verdanken es Maria und den Aposteln, wenn wir heute an Christus glauben und Christen sein können.

Die Folgen der Reformation
Die Reformatoren Martin Luther, Huldrich Zwingli u. a. wollten Anfang des 16. Jahrhunderts eine reformbedürftige Kirche erneuern. Sie wollten sie nicht nur von sittenlosen Klerikern und Ordensleuten befreien, sondern auch von religiösen Übertreibungen, wie etwa den täglichen Heiligenfesten, Prozessionen und dem Ablasshandel. Sie wiesen vor allem auf das Zentrum der Kirche hin, auf «Christus allein». Sie befreiten die Kirche von scheinbar unnötigen Traditionen und erklärten die Bibel zur einzigen Grundlage der Kirche. Sie schafften die Verehrung von Maria und den Heiligen ab. Dabei haben sie jedoch übersehen, dass das Neue Testament ohne das Mitwirken von Maria nie entstanden wäre. Denn kein Evangelist und kein Apostel hat Jesus so gut gekannt wie Maria. Maria hat ihren Sohn während seines ganzen abenteuerlichen Lebens klug begleitet, angefangen bei seiner aussergewöhnlichen Geburt in einem Stall, seiner Flucht nach Ägypten, der Erklärung des 12-jährigen Jesus, dass der Tempel sein wahres Vaterhaus sei. Bei der Hochzeit von Kana (Johannes 2,1–5) war es Maria, die merkte, dass der Wein ausging und das Fest zu früh zu Ende gehen könnte. Als die Feiernden dachten, dass sie doch Wein brauchten und nicht grosse Krüge mit Wasser, ermunterte Maria die Diener: «Tut alles, was er euch sagt.» Mit dieser Aussage hat auch Maria gezeigt, dass wir Christus und nicht Maria in die Mitte stellen sollen. Christus hat dann diskret das Wasser in besten Wein verwandelt! Die katholische Kirche will nicht Maria, sondern Christus in die Mitte stellen. Beim katholischen Gottesdienst wird immer die Eucharistie mit Christus gefeiert und sein «Vater Unser» gebetet, nicht das «Ave Maria». Wir sollten aber nie vergessen, dass es ohne Maria keinen Jesus Christus gäbe. Ohne sie gäbe es keine Evangelien, die über das Leben Jesu berichten. Dabei erwähnen diese immer wieder in diskreter Weise Maria, die sich selber «Magd des Herrn» (Lukas 1,18) nannte und in ihrem Lobgesang (Magnificat) Gott lobte, der «auf Niedrigkeit seiner Magd geschaut hat. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter» (Lukas 1,48). Daher kann man nicht behaupten, die Marienverehrung in der katholischen Kirche sei «unbiblisch»! Das Gegenteil ist der Fall!

Die Dogmen haben ihren ­Ursprung in der Bibel
Dogmen sind Glaubenssätze, die Glaubenswahrheiten zusammenfassen, die an verschiedenen Stellen der Bibel angedeutet werden. Zum Beispiel wird der Glaubenssatz «Christus ist wahrer Mensch und Gott» (Konzil von Chalcedon im Jahre 451) schon in Lukas 1, Matthäus 1 und Johannes 1 mehrfach angedeutet.

Wie steht es mit dem Dogma «Mariä Himmelfahrt»? «Himmelfahrt» ist eine unglückliche deutsche Übersetzung des lateinischen Wortes «Assumptio». Dieses Fest wird heute mit «Aufnahme Mariens in die himmlische Herrlichkeit» besser übersetzt. Dass Maria im Himmel beim auferstandenen Christus Aufnahme fand, wurde seit den ersten Jahrhunderten geglaubt, bevor Papst Pius XII. im Jahr 1950 dieses Glaubensgeheimnis in einem Dogma festgehalten hat. Das gleiche kann man auch bei den anderen marianischen Dogmen über Mariens Jungfräulichkeit, ihre Gottesmutterschaft oder ihre Makellosigkeit nachweisen. Alle marianischen Dogmen haben ihren expliziten oder zumindest impliziten Ursprung in der Bibel. Dazu muss die Bibel aber so verstanden werden, wie sie sich selbst versteht, nämlich nicht als präzise historische Berichte, sondern als Sammlung vieler mündlicher Überlieferungen, die nicht Reportagen sein wollen, aber Glaubenswahrheiten festhalten. Wir müssen uns vor der überheblichen Meinung hüten, dass wir heute alles besser wissen könnten als die Bibel!

Aktuelle Entwicklungen
Die Reformation hat Maria nicht beseitigt! Luther und Zwingli blieben Verehrer der Mutter Gottes. Die schönste Vertonung des Magnificats (des Lobgesanges Mariens in Lukas 2,46–56) hat uns der grosse lutherische Kirchenmusiker Johann Sebastian Bach geschenkt! In manchen reformierten Kirchen sieht man wieder Statuen und Bilder von Maria. Maria bleibt wichtig für alle Christen.

Maria ist Urbild und Mutter der Kirche. Was bedeutet das? Was an Maria bereits Wirklichkeit geworden ist, nämlich die volle ­Gemeinschaft mit Gott, ist auch uns versprochen. So dürfen wir uns über die Marien­feste freuen, besonders über Mariä Himmelfahrt. Mit diesem Festgeheimnis ist an ihr bereits Wirklichkeit geworden, was auch uns versprochen ist.

Ich bewundere Maria als starke, abenteuerbereite Frau, die in allen Situationen zu Christus hält. Auch heute ermutigt sie uns, mutige und risikobereite Menschen und Christen zu sein – mit einem grossen Gottvertrauen!  

 

 

Martin gaechter Christoph Wagener 2012 CC BY SA 3.0

Martin Gächter wuchs in Basel auf, empfing 1967 die Priesterweihe und wirkte von 1987 bis 2014 als Weihbischof von Basel und Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz. Seit seiner Emeritierung lebt er als Seelsorger im Elisabethenheim Bleichenberg in Biberist. Sein bischöflicher Wahlspruch: «Servare unitatem spiritus» / «Bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren» ist dem Epheserbrief entnommen (Eph 4,3).