Schwerpunkt

Der St.-Ursen-Krimi

von Urban Fink-Wagner

1828 wurde das Bistum Basel neu umschrieben und die Stifts- und Pfarrkirche St. Ursen zur Kathedrale erhoben. Aber schon nach 1830 war die Weiterexistenz von St. Ursen als römisch-katholische Kirche mehrfach gefährdet. 

Das im Zusammenhang mit der Neuumschreibung des Bistums Basel 1828 abgeschlossene Konkordat zwischen den damaligen Basler Bistumskantonen und dem Heiligen Stuhl sicherte die St.-Ursen-Kathedrale und das Domkapitel völkerrechtlich ab. Das Domkapitel mit den bischofswahlberechtigten Dom­herren löste das frühere Stift mit zwölf ­Solothurner Chorherren ab, welche seit Jahrhunderten das Chorgebet und die Gottesdienste zu St. Ursen gewährleistet hatten.

Diese Absicherung aber nützte nach 1830 nicht viel, da die neue solothurnische Führungsschicht wegen liberalen Reformen und dank der neuen repräsentativen Demokratie – es gab nur Majorzwahlen und noch kein Ini­tiativrecht – umfassenden politischen Einfluss auf kirchliche Institutionen ausüben konnte, auch wenn dies rechtlich oftmals fragwürdig war. Diese «fortschrittlichen» Kreise schätzten Chorherrenstifte und Klöster als unnütz und überholt ein. Die Katholisch-Konservativen wehrten sich lange ­vergebens gegen diese oftmals auch antiklerikale liberale Vorherrschaft. Ein weiterer Treiber war die Finanzknappheit des Kantons Solothurn, der trotz zunehmender Staatstätigkeit bis 1895 keine Staatssteuern erheben konnte, aber umso lieber auf das Kirchenvermögen zurückgriff. Den Katholisch-Konservativen gelang es 1895 mit dem Zugeständnis, Staatssteuern erheben zu dürfen, die Einführung der direkten Demokratie mit Proporzwahlrecht, womit die Alleinherrschaft der Liberal-Radikalen ein Ende nahm. 

Der Propstwahlkonflikt von 1834
Erst auf dem Hintergrund der weltanschaulichen Gegensätze des 19. Jahrhunderts und des Geldbedarfs des Kantons werden die Auseinandersetzungen um die St.-Ursen-­Kirche verständlich. Als 1834 Propst Franz Peter Joseph Gerber starb, wählte die Kantonsregierung nicht, wie seit 1520 üblich, ein Stiftsmitglied zu dessen Nachfolger, sondern einen aussenstehenden Geistlichen. Damit sah sich die Stadt Solothurn um ihr Wahlrecht betrogen, einen neuen Stifts­angehörigen ernennen zu dürfen, weil diese Stelle nun bereits durch den neuen Propst besetzt war. Gemeinsam widersetzten sich der Heilige Stuhl, der ­Basler Bischof, das Domstift und die Stadt Solothurn dem Vorgehen des Kantons, der seinerseits als Gegenmassnahme die Vermögensverwaltung des St.-Ursen-Stifts an sich riss und zukünftig das alleinige Wahlrecht im Domstift für alle Stellen beanspruchte. Vakante Posten wurden vom Staat nicht besetzt, um möglichst viel Geld für die Finanzierung des staatlichen Schulwesens und für die Pen­sionskasse der Pfarrer abzweigen zu können. Versprechungen gegenüber dem Stift wurden nicht eingehalten, um schneller ans Geld zu kommen. Der für das Stift wichtige und einträgliche Rebbesitz wurde vom Staat verkauft und das Geld in den Staatssäckel gesteckt. Schon 1852 tauchte schliesslich erstmals die Idee auf, das Domstift aufzuheben.

Die Aufhebung des Stifts
Nachdem 1873 der Basler Bischof im Kulturkampf aus Solothurn vertrieben wurde, ergriffen der Regierungs- und Kantonsrat Massnahmen, die bereits einer Stiftsaufhebung gleichkamen. 1874 bildete eine weitgehend manipulierte Volksabstimmung mit der Aufhebung der Stifte von Solothurn und Schönenwerd und des Benediktinerklosters Mariastein den Schlusspunkt einer jahrzehntelangen Entwicklung. Es gelang der katholischen Kirche im damals noch weitgehend katholischen, aber mehrheitlich «fortschrittsbewussten» Kanton Solothurn nicht, den Wert der traditionellen kirchlichen Institutionen herauszustellen, während die tonangebenden liberal-radikalen Politiker erfolgreich diese Institutionen als rückständig, ja aus der Zeit gefallen dar­stellten.

Mit der Aufhebung des Stifts fand der feierliche Chorgesang ein Ende. Das über Jahrhunderte wichtige und umfangreiche ­Totengedenken und die Verehrung der Thebäerheiligen brachen ein. Die Klerikerstadt rund um St. Ursen verschwand. Unbehelligt blieben einzig die bei der Landbevölkerung sehr beliebten Kapuzinerklöster, so auch ­deren Niederlassung in Solothurn. 

Der Kampf um St. Ursen
Mit der Aufhebung des Stifts fingen die Schwierigkeiten für die Pfarrei St. Ursenso richtig an. Es folgte ein langwieriger Streit um die Eigentumsrechte an St. Ursen sowie Auseinandersetzungen um den Dom­schatz und den übrigen Stiftsbesitz. Der ursprüngliche Plan von freisinnigen Katholiken, eine Schweizer Nationalkirche zu gründen, misslang zwar, da in der ganzen Schweiz kein römisch-katholischer Bischof und im Kanton Solothurn nur ein Priester bereit war, die römische Kirche zu verlassen. 1872 verwarf die Solothurner Pfarrgemeinde das Unfehlbarkeitsdogma des Papstes, 1875 aber auch die Wahl eines christkatholischen Stadtpfarrers und 1876 die Durchführung der Weihe des ersten christkatholischen Bischofs in St. Ursen. Dass die zwei Entscheide gegen die entstehende christkatholische Kirche möglich wurden, war zu wesentlichen Teilen dem für Solothurn zuständigen Generalvikar, Dompropst Friedrich Fiala, zu verdanken, der fundiert und rhetorisch geschickt als Führer der Solothurner Geistlichkeit auftrat, ein parteiübergreifendes Beziehungsnetz hatte und wirkungsvoll Einfluss nehmen konnte.

Damit aber war St. Ursen als römisch-katholische Pfarrkirche noch nicht gesichert. Der Konflikt um die Frage, wer Eigentümer von St. Ursen ist und wie die Vermögenssausscheidung zwischen dem Kanton, der Stadt, den sich bildenden römisch-katholischen und christkatholischen Kirchgemeinden erfolgen sollte, führte zu einem 50 Jahre dauernden Hin und Her voll von Prozessen bis vor Bundesgericht. Die Pfarrgemeinde musste sich 1882 zur römisch-katholischen Kirchgemeinde konstituieren, um rechts­fähig zu werden. Damit aber fand die bisherige Symbiose mit der Stadtgemeinde ihr Ende, die sich im Einzelfall durchaus ­zugunsten der Römisch-Katholiken aus­gewirkt hatte. Die römisch-katholische ­Kirchgemeinde war nicht bereit, der christkatholischen Kirche grössere Vermögenswerte abzutreten, da schon der Kanton das Kirchenvermögen arg lädiert hatte. Zwar gelang es dem 1885 zum Bischof von Basel ernannten Friedrich Fiala, die Aufteilung des Kirchenschatzes zu verhindern. Aber 1894 musste die Kirchgemeinde den Domschatz, der mehrmals die Hand gewechselt hatte, paradoxerweise zurückkaufen. 

Langwierige Prozesse um ­die ­Sicherung von St. Ursen
1916 wurde endlich ein Vertrag zwischen der Einwohnergemeinde Solothurn, der ­römisch-katholischen und der christkatholischen Kirchgemeinde abgeschlossen, in dem die Stadt Solothurn und die christ­katholische Kirchgemeinde auf St. Ursen verzichteten. Die römisch-katholische Kirch­gemeinde einigte sich schnell mit der Stadt über die Abgeltung bisheriger städtischer Aufwände, nicht aber mit den Christkatholiken, die eine Maximalforderung erhoben. Erst ein Eingriff von aussen ermöglichte die Umsetzung des Vertrags: 1929 setzte das Bundesgericht die Höhe der Abfindungssumme so fest, dass die römisch-katholische Kirchgemeinde diese überhaupt finanzieren konnte. Mit der 1930 erfolgten Geldüber­weisung an die christkatholische Kirch­gemeinde war der Weg frei für den Eintrag der ­römisch-katholischen Kirchgemeinde im Grundbuch als Alleineigentümerin von St. Ursen.

Glücklicherweise gab es in den harten und in Einzelheiten noch unerforschten Ausei­nandersetzungen um die St.-Ursen-Kirche keine Toten oder Verletzte. Stoff für einen spannenden Krimi aber bieten die Irrungen und Wirrungen um St. Ursen allemal. Und die römisch-katholische Kirchgemeinde und Pfarrei Solothurn können heute – nun glücklicherweise in ökumenischer Offenheit zusammen mit den Schwesterkirchen – die «250 Jahre St. Ursen» feiern, weil viele Vorfahren mutig und beherzt und auch opferfreudig bereit waren, sich unter schwierigsten Bedingungen für St. Ursen einzusetzen. Dafür dürfen wir dankbar sein und hoffen, dass auch wir den Mut aufbringen, uns den heutigen Herausforderungen und Auseinandersetzungen in Kirche und Welt zu stellen.  

Bild Pfaffen Jagd Kt. SO zVg