Schwerpunkt

Stammt der Menschen vom Affen ab?

von Stephan Kaisser

Die Frage nach den Ursprüngen unserer Welt und des Lebens hat Menschen seit jeher fasziniert und bewegt, so kennt jede Kultur ihre Schöpfungsmythen. Diese scheinen mit wissenschaftlichen ­Erklärungen der Weltentstehung unvereinbar zu sein. Wie vertragen sich die jüdisch-christlichen Schöpfungserzählungen, die von einem göttlichen Schöpfer sprechen, mit den modernen ­naturwissenschaftlichen Theorien? 

Darwins Evolutionstheorie
Der britische Naturforscher und Theologe Charles Darwin erschütterte 1859 mit seinem Werk «Über die Entstehung der Arten» das religiöse Weltbild. Mit seiner Evolutionstheorie behauptete er, dass sich alles Leben, auch das der Menschen, über lange Zeiträume durch natürliche Auslese entwickelt habe. Diese Zeiträume seien um vieles länger als die ca. 6000 Jahre, die sich aus der Bibel für die Schaffung der Welt durch Gott errechnen liessen. Pflanzen, Tiere und Menschen seien von Gott nicht als fertige Geschöpfe in sechs Tagen geschaffen worden, sondern sie hätten sich über Jahrtausende entwickelt. Dabei hätten sich diejenigen Arten durchgesetzt, die besonders gut an ihre Umwelt angepasst waren.  

Haltung der Kirchen
Seitens der Kirchen, besonders aus der anglikanischen, kam es zu heftigen Reaktionen, weil die Wahrheit der biblischen Schöpfungserzählungen infrage gestellt wurde. Für Darwin selbst, der anglikanischer Priester werden wollte, war dies anscheinend kein Problem: «Ich kann nicht glauben, dass die in diesem Bande aufgestellten Ansichten gegen irgend wessen religiöse Gefühle verstossen sollten.» (Charles Darwin: Die Entstehung der Arten). 

Auch in katholischen Kreisen wurde Darwin als Fantast und Ketzer angesehen, allerdings landete sein Buch nicht auf dem römischen Index. Theologen versuchten Darwin zu widerlegen oder Evolution und christliches Weltbild zu verbinden, wie z. B. später der französische Jesuit und Paläontologe Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955). «Der Mensch ist nicht, wie er so lange geglaubt hat, fester Weltmittelpunkt, sondern Achse und Spitze der Entwicklung – und das ist viel schöner.» (Pierre Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos). 

Zur gleichen Zeit hat Pius XII. im Jahre 1950 in der Enzyklika «Humani Generis» die Evolutionstheorie als ernsthafte Hypothese bezeichnet und 1996 schrieb Johannes Paul II. an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften: «Heute geben neue Erkenntnisse dazu Anlass, in der Evolutionstheorie mehr als eine Hypothese zu sehen.» 

Die Wahrheit der biblischen Schöpfungserzählung
Worin liegt aber nun heute noch, nachdem die Evolutionstheorie wissenschaftlich eta­bliert und auch im Christentum grösstenteils anerkannt ist, der Wert der biblischen Erzählungen? 

In der Bibel gibt es zwei unterschiedliche Schöpfungserzählungen, die direkt am Anfang der Bibel im Buch Genesis stehen. (Gen 1,1–2,4a und Gen 2,4b–25) 

Die erste jüngere Schöpfungs­erzählung
Die jüngere, im babylonischen Exil um 600 v. Chr. entstandene, erzählt in Gedichtform, wie Gott die Welt und die Lebewesen durch sein Wort in sechs Tagen erschafft und ordnet. Jeder Tag stellt einen bestimmten Schöpfungsakt dar, der evolutiv bis zur Erschaffung des Menschen als Mann und Frau führt. Jeder Tag schliesst mit der Formel «es wurde Abend und es wurde Morgen» und der Bestätigung «es war (sehr) gut». Gott schafft Tag und Nacht, Himmel und Erde, Meer und trockenes Land, dann erschafft er Pflanzen, Tiere und den Menschen. «Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie … Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut. Es wurde Abend und es wurde Morgen: der sechste Tag.» (Gen 1,27.31).

Sodann bekommt der Mensch (Mann und Frau) den Auftrag, über alle Lebewesen zu herrschen. Nicht im Sinne von Ausbeutung, sondern es wird das gleiche Verb verwendet wie bei einem guten König, der über sein Volk herrschen bzw. für es sorgen soll. Als Gleichnis Gottes, wie Martin Buber übersetzt, stehen Mann und Frau für die lebensspendende Kraft Gottes. So gibt es in diesem paradiesischen Anfangsbild keinen Tod und keine Gewalt, der Mensch und sogar die Tiere bekommen Pflanzen und Früchte zur Nahrung, kein Fleisch. Am siebten Tag wird die Schöpfung durch die Ruhe vollendet.

Mit dieser Erzählung wollten Priester den Juden im Exil in Babylon Zuversicht und Trost spenden. Die Juden hatten ihre Heimat, ihren Tempel und teilweise das Vertrauen in die Macht ihres Gottes verloren. So wird hier betont, dass Gott der Schöpfer aller Dinge ist, auch von Sonne und Mond, die bei den Babyloniern als Gottheiten verehrt wurden. Gott kann Ordnung im Chaos schaffen, er hat alles gut gemacht und geordnet und jeder Mensch hat seine Würde als Gottes Ebenbild. Der siebte Tag als Ruhetag wird betont, weil jetzt der Sabbat, an dem die Juden sich zum Wort- statt zum Tempelgottesdienst treffen, besonders wichtig wird. 

Die zweite, ältere Schöpfungs­erzählung
In der anschliessenden älteren, ca. um 900 v. Chr. in Jerusalem entstandenen, archaisch anmutenden Erzählung wird nach der Weltschöpfung genauer auf die Menschenerschaffung eingegangen. Jetzt schafft Gott, der mit dem Gottesnamen JHWH bezeichnet wird, wie ein Gärtner, der für den Menschen einen Garten anlegt und der wie ein Töpfer den Menschen (Adam = Erdling) aus der Erde (= Adama) formt und ihm durch die Nase den Lebensgeist einhaucht. Der Mensch soll diesen Garten bebauen und bewahren. Danach erst werden die Tiere als Hilfe für den Menschen erschaffen, aber sie sind dem Menschen kein adäquates Gegenüber. Dann teilt Gott den Menschen in Mann und Frau, damit sie beide ein entsprechendes Gegenüber haben. «Da liess Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu.» (Gen 2,21–22) Erst jetzt ist von Mann und Frau die Rede und ihre gegenseitige Anziehung wird durch ihren gemeinsamen Ursprung erklärt. Die abwertende Interpretation, dass die Frau erst nachträglich als Hilfe für den Mann erschaffen wurde, die bis heute noch gängig ist, wird dem biblischen Text nicht gerecht.  

Die Vereinbarkeit von Glauben und Wissenschaft
Schon, dass es zwei inhaltlich unterschiedliche biblische Schöpfungserzählungen gibt, zeigt, dass diese nicht historisch oder wortwörtlich zu verstehen sind. Die Verfasser bezogen sich auf das Weltbild ihrer jeweiligen Zeit. Heute muss akzeptiert werden, dass sie keine wissenschaftliche Darstellung der Entstehung der Welt enthält und deswegen auch in kein wissenschaftliches Lehrbuch gehört, wie es manche sogenannten Kreationisten wollen. Dagegen bieten wissenschaftliche Theorien wie die Urknalltheorie und die Evolutionstheorie empirische Erklärungen für die Entwicklung des Universums und des Lebens. Die Urknall­theorie erklärt den Ursprung des Universums durch einen kosmischen Urknall, gefolgt von einer langen Entwicklungsphase. Die Evolutionstheorie erklärt die biologische Vielfalt und die Anpassung der Arten im Laufe der Zeit durch natürliche Selektion und genetische Veränderungen. Nach ihr stammen wir Menschen zwar nicht von Affen ab, wie in der Überschrift gefragt, wir haben aber durchaus einen gemeinsamen Vorfahren, der vor ca. sechs Millionen Jahren lebte. Aus ihm haben sich im Laufe der Evolution verschiedene Arten entwickelt: Menschenaffen, der bekannte Neandertaler, der inzwischen wieder ausgestorben ist, der Mensch und andere. Heute lebende Menschenaffen sind also keine Vorstufe des Menschen, sondern eigenständige Gattungen, die aber nah mit uns verwandt sind.

Die biblischen Erzählungen sagen uns dazu ergänzend, dass der Mensch mehr ist als nur ein Zufallsprodukt und eine Kombination von Atomen und Zellen, der auch genauso gut nicht existent sein könnte. Sie besagen, dass der Mensch mehr ist als nur Materie. Er ist zwar aus der Erde geschaffen, hat aber auch Gottes Atem in sich. Er ist gottgewollt, hat eine bestimmte Aufgabe und eine besondere Würde, dies gilt für jeden einzelnen Menschen. Der Natur ist der einzelne Mensch gleichgültig, Gott nicht! Deswegen dürfen wir auch nicht gleichgültig gegenüber anderen Menschen sein. Auch nicht gegenüber unserer Mitwelt. Der Mensch hat seine Grenzen und seine Verantwortung. 

Indem wir die naturwissenschaftliche und die gläubige Perspektive zusammenbringen, können wir zu einer ganzheitlicheren Sichtweise gelangen. Auf diese Weise ergänzen sich Glaube und Wissen, und wir können sowohl die tiefere Bedeutung als auch das wissenschaftliche Verständnis des Universums schätzen, darüber staunen und dankbar sein.