Schwerpunkt

Wofür brennen wir?

von Marina Stawicki Stalder

Wenn es draussen kälter und immer früher dunkel wird, wenn der Advent vor der Türe steht, ­haben sie Hochsaison: die Kerzen. Doch sie begleiten uns bei Weitem nicht nur in der uns ­bevorstehenden Zeit – ihre Geschichte führt weit zurück und ihre Symbolik vereint Menschen ­unterschiedlichster Herkunft und Gesinnung. 

Ihren Ursprung haben Kerzen, zumindest so wie wir sie auch heutzutage noch einsetzen, bereits im alten Rom. Dort wurden sie schon im 2. Jahrhundert n. Chr. in der Form von niedrigen Talg-, Pech- und Wachskerzen verwendet. Zur damaligen Zeit hatten Kerzen den Zweck der Beleuchtung von Räumen. Man schenkte sie sich etwa bei der Wintersonnwendfeier (Saturnalfa), um der Finsternis das Licht entgegenzusetzen.

Eine brennende Kerze wird im religiösen Verständnis als ein Symbol der Seele gedeutet. Für Christinnen und Christen ist das Entzünden von Kerzen auf dem Altar, und im Besonderen der Osterkerze, ein Zeichen für die Auferstehung Jesu, der als Licht zu uns kommt und die Dunkelheit erhellt. Kerzen stehen für Andacht, Gemeinschaft und das Gefühl, behütet zu sein. Im Privaten kann Kerzenschein für Romantik, für Wärme und Geborgenheit sorgen. Er kann Trost spenden und uns dabei unterstützen, die Hoffnung nicht aufzugeben. Kerzenlicht wirkt entschleunigend – ein Raum erscheint im wahrsten Sinne des Wortes in einem anderen Licht, wir bekommen die Möglichkeit, unsere Gedanken schweifen zu lassen, sie zu reflektieren und so näher bei uns selbst zu sein. 

Von einem, der von und mit den Kerzen lebt, möchte ich erzählen. Es ist eine beeindruckende Geschichte.

Zu einem Licht werden für ­andere – Besuch bei Schulthess Kerzen in Utzenstorf 
«Wofür brenne ich?» Diese Frage stellte sich vor 45 Jahren der junge Theo Schulthess. ­Seine kaufmännische Anstellung im Büro machte ihn zusehends unglücklich – das konnte es doch noch nicht gewesen sein. Er machte sich Gedanken darüber, wie er mit bescheidenen Ressourcen und möglichst einfachen Mitteln etwas produzieren und anschliessend verkaufen könnte. In einem kleinen, idyllischen Kuhstall in der Region Bern richtete er sich mit Abfallmaterialien ein Atelier ein. Er begann, gekauften Wachs in Töpfen auf vier gewöhnlichen Herdplatten zu schmelzen und ihn in Formen zu giessen. Zum Einfärben verwendete er anfänglich abgeriebene Caran-d’Ache-Farbe. Was sich erst einmal nach einer unrealisierbaren Vision anhört, liess Theo Schulthess nicht los. Mit viel Kreativität und Durchhaltewillen wuchs das ­Familienunternehmen. «Schulthess Kerzenhandwerk» in Utzenstorf beschäftigt inzwischen 10 Mitarbeitende und wird von zwei Generationen der Familie geführt, von Theo und seiner Tochter Leonie Schulthess. Wie seit den Anfängen werden auch heute noch alle Kerzen vor Ort handgegossen, mittlerweile mit einer professionellen Infrastruktur und optimierten Produktionsabläufen. 

Bei unserem Besuch in Utzenstorf treffen wir auf einen bemerkenswerten Menschen. Sein grauer Lockenschopf und die auffallend farbenfrohe Kleidung lassen seine Kreativität erahnen, da ist ein Arbeiter in seinem Element. Trotz unseres recht spontanen «Hereinschneiens» nimmt er sich die Zeit und lässt die vergangenen Jahre Revue passieren. Er habe nie einen Businessplan, geschweige denn je ein Budget erstellt. Alles nach dem Motto: Learning by doing. In den ersten zehn Jahren lag der Fokus allein auf dem Farbkonzept. Im Laufe der Zeit zeichnete sich allerdings vermehrt ab, dass in diesem Bereich die internationale Konkurrenz für ein solch kleines Unternehmen zu stark war. Er habe begonnen, nach neuen Wegen zu suchen. Theo Schulthess erinnert sich gut, wie ihm auffiel, dass Duftkerzen lediglich in Gläsern angeboten wurden. Das sollte sich ändern: Er begann, ein Duftkonzept für Stumpenkerzen zu erstellen. Gemeinsam wurden im Familienbetrieb neue Duftmischungen und neugierig machende Namen ausgetüftelt. 

Schulthess Kerzenhandwerk hat eine Nische gefunden – das Konzept wird von niemandem in der Branche nachgeahmt. «Schon erstaunlich!», findet Schulthess. So sind die Duftkerzen zur Passion geworden. In der Produktion wird grössten Wert auf qualitativ hochwertige Rohmaterialien und zu 100 % natürliche Essenzen gelegt. Die Düfte und Farben werden mit viel Sorgfalt auserlesen und orientieren sich an den aktuellen Trends und Bedürfnissen der Kundschaft. Wir sind fasziniert von der Vielfalt der Kerzen, die uns im Lagerverkauf förmlich anstrahlen – und das, obwohl sie noch gar nicht angezündet wurden. Theo Schulthess führt uns in die Produktionshalle. Sie befindet sich ein Dorf weiter auf dem Areal der Firma Buser, die früher Druckmaschinen für Stoffe herstellte. Nach dem Schicksalsschlag 2021, als «Schulthess Kerzen» bei einem Grossbrand beinahe alles verlor, erhielt der Betrieb dort eine neue Wirkungsstätte. Und wieder werden wir überrascht: Die Halle ist mit den einfachsten Mitteln ausgestattet. Die langen Reihen der Produktionstische wurden eigenhändig geschreinert, die Kerzen werden in Kartonröhren gegossen, die eigens dafür in Pfäffikon hergestellt werden und sich mehrfach verwenden lassen. Das Wachs wird in Zusammenarbeit mit einem Chemiker von «Balthasar Kerzen» in Hochdorf fabriziert, anschliessend dann bei Schulthess gemischt. Und das ohne Rührwerk! «Wozu solch kostspielige Maschinen? Ein Stock reicht vollkommen», ­bemerkt Theo Schulthess aus voller Überzeugung. 

Eine Frage brennt mir auf der Zunge. Wie hat er das gemacht, all den Widerständen getrotzt, Rückschläge hinter sich gelassen und immer weitergekämpft, alles für «seine» Kerzen? Theo Schulthess hält inne, muss aber nicht lange überlegen. Als überzeugter Militärverweigerer musste er vor langer Zeit in Burgdorf für drei Monate ins Gefängnis. In dieser Zeit habe er zum Glauben gefunden. Er spricht von Offenbarung. Und er ist sich ganz sicher: Gott ist da. Für uns alle. Ob wir nun dran glauben oder nicht. Er tut es – und weiss, dass er es ohne dieses Urvertrauen nicht geschafft hätte.

Kürzlich habe ich eine Geschichte unbekannter Autorschaft gelesen, die zum Nachdenken anregt und nun wunderbar passt:

Vier Kerzen brannten am Adventskranz. Es war ganz still. So still, dass man hörte, wie die Kerzen zu reden begannen.

Die erste Kerze seufzte und sagte: «Ich heisse Frieden. Mein Licht leuchtet, aber die Menschen halten keinen Frieden, sie wollen mich nicht.» Ihr Licht wurde immer kleiner und erlosch schliesslich ganz.

Die zweite Kerze flackerte und sagte: «Ich heisse Glauben. Aber ich bin überflüssig. Die Menschen wollen von Gott nichts wissen. Es hat keinen Sinn mehr, dass ich brenne.» Ein Luftzug wehte durch den Raum und die zweite Kerze war aus.

Leise und sehr traurig meldete sich nun die ­dritte Kerze zu Wort: «Ich heisse Liebe. Ich habe keine Kraft mehr zu brennen. Die Menschen stellen mich an die Seite. Sie sehen nur sich selbst und nicht die anderen, die sie liebhaben sollen.» Und mit einem letzten Aufflackern war auch dieses Licht ausgelöscht.

Da kam ein Kind ins Zimmer. Es schaute die ­Kerzen an und sagte: «Aber, aber, ihr sollt doch brennen und nicht aus sein!» Und fast fing es zu weinen an. Da meldete sich auch die vierte ­Kerze zu Wort.

Sie sagte: «Hab keine Angst! Solange ich brenne, können wir auch die anderen Kerzen wieder anzünden.

Ich heisse Hoffnung!»

Mit einem Streichholz nahm das Kind das Licht dieser Kerze und zündete die anderen Kerzen wieder an!  

 

Schulthess Kerzen

In Utzenstorf können die Kerzen im Direktverkauf erstanden werden.
www.schulthesskerzen.ch 

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Die Kunsthistorikerin und -vermittlerin ­Marina Stawicki Stalder (1984) wuchs mit theologischem Hintergrund auf, wirkt im Kunstmuseum Olten und lebt mit ihrer Familie in Kestenholz. Gemeinsam mit Ruedi Gebhard lädt sie im Kunsthaus ­Zofingen viermal jährlich zur Veranstaltung «Religion und Kunst» ein.