Schwerpunkt

Deus ex Machina

Religion und künstliche Intelligenz

von Reto Stampfli

Künstliche Intelligenz (KI) ist das neue Zauberwort des technischen Fortschritts. Sie durchdringt ­immer mehr das menschliche Dasein und wirft dabei ethische Fragen auf. In zahlreichen Bereichen gibt es Berührungspunkte mit der Theologie. Deren Aufgabe ist es, neue Wege zu wagen, dabei ­jedoch stets das genuin Menschliche im Blick zu behalten. 

Von der schwer abschätzbaren Macht der Maschinen und der Algorithmen erzählt der im Herbst 2023 erschienene Roman «Maniac» des chilenischen Autors Benjamin Labatut. In diesem Buch wird uns der Mathematiker John von Neumann vorgestellt, der nicht nur den ersten speicherfähigen Computer entwickelt hat, sondern auch ein umstrittenes Genie ist, mit durchaus fragwürdigen Vorstellungen von Ethik und Moral. Der in Holland aufgewachsene Schriftsteller beschreibt in seinem dystopischen Bestseller die Ankunft der «neuen Götter», in der Form von gigantischen neuronalen Netzwerken, die nie ausgelernt haben. So ist es bloss eine Frage der Zeit, bis die KI ihre unstillbare Datenkumulierung vollendet hat und den Menschen mit der dadurch gewonnenen Allmacht in die Knie zwingt. KI wird somit zu einer Religion, ganz so wie es der ehemalige Google-Mitarbeiter Anthony Levandovski 2012 in seiner Kirche «Way of the Future» verkündete. Er ging davon aus, dass eine KI-Gottheit geschaffen werden wird, die intelligenter ist als Menschen und die Kontrolle über die Welt übernehmen wird. 

Was ist «künstliche Intelligenz»?
Die überwiegende Mehrheit der KI-Expertinnen und -Experten würden diese wilden Fiktionen von einer totalen Unterwerfung als Grössenwahn und reine Angstmacherei abtun. Auf dem Boden der Realität wurde der Begriff Künstliche Intelligenz (KI) vor mehr als 60 Jahren durch den US-Informatiker John McCarthy geprägt. Er stellte einen Antrag für ein Forschungsprojekt zu Maschinen, die Schach spielten, mathematische Probleme lösten und selbstständig lernten. Er und seine Mitstreiter waren über­zeugt, dass Denkprozesse auch ausserhalb eines menschlichen Gehirns möglich sind. Den Grundstein für das Fachgebiet der KI legte jedoch bereits 1936 der britische Mathematiker Alan Turing. Er bewies, dass eine Rechenmaschine – eine sogenannte «Turingmaschine» – in der Lage ist, kognitive Prozesse auszuführen. Grundsätzlich versucht KI das zu imitieren, was menschliche Intelligenz leistet. Das gelingt ausserordentlich gut, wenn es um umfangreiche Datenmengen, logische Deduktionen oder Erinnerungen geht. In den Bereichen der emotionalen und sozialen Intelligenz bestehen hingegen augenfällige Defizite. «Maschinen besitzen keine Moralfähigkeit», betont der Schweizer Theologe und Ethiker Peter G. Kirchschläger zu Recht. Er weist auch dezidiert darauf hin, dass Maschinen die menschliche Fähigkeit fehlt, sich aufgrund seiner Freiheit selbst ethische Regeln zu setzen und für verbindlich zu erklären. Darum sprechen viele Forschende bewusst nicht von «Künstlicher Intelligenz», sondern von «datenbasierten Systemen», denn jede komplexe Datenverarbeitung hängt von der Qualität und der Vielzahl der Daten ab, die verarbeitet werden können. Wir dürfen also den Maschinen keine eigene «Intelligenz» zusprechen, obwohl sie kognitive Eigenschaften haben, bei denen wir Menschen hilflos überfordert sind. Auch wenn der Chatbot – ein Computerprogramm, das künstliche Intelligenz und natürliche Sprachverarbeitung nutzt, um Kundenfragen zu verstehen und die Antworten darauf zu geben – als virtuelles Gegenüber zu erstaunen vermag, verfügt er nicht einmal ansatzweise über humane Qualitäten. 

KI und Religion 
Derzeit befindet sich die Wissenschaft in einer Phase, in der unterschiedliche Forschungsansätze miteinander verbunden werden. Diese Forschung wird natürlich nicht nur aus hehren Interessen und gutem Willen vorangetrieben. In der KI-Forschung steckt ein enormes wirtschaftliches Potenzial, das Gesellschaft und Politik nachhaltig verändern wird. Auch die Einführung von KI in religiöse Praktiken könnte die Art und Weise, wie Menschen ihre Spiritualität erleben, transformieren. Virtuelle Assistenten könnten religiöse Beratung bieten oder sogar religiöse Rituale anleiten. Heute existieren bereits zahlreiche Apps und KI-Systeme, die zeigen, wie Mensch und Maschine im Kontext der Religion zusammenarbeiten und sich einander annähern könnten. Im Jahre 2017 überraschten japanische Forscher mit der Vorstellung des humanoiden Roboters «Pepper», der als Priester buddhistische Gottesdienste leitete. Auf dem evangelischen Kirchentag 2023 in Nürnberg konnten die Besucher einem Avatar zuhören, der eine von der Sprach-KI ChatGPT ­geschriebene Predigt vortrug. So wird im religiösen Bereich, ähnlich wie in Krankenhäusern, der Einsatz von sozialer Robotik diskutiert. Das sind Roboter, die auf soziale Interaktion programmiert sind und zum Beispiel Menschen im Spital begleiten. Da stellt sich schnell einmal die Frage: Sollten diese Roboter nicht auch religiöse Themen aufgreifen oder religiöse Bezüge herstellen, ein Gesprächsangebot schaffen, wenn sie im Einsatz sind? Das riesige Potenzial, Informationen schnell zu verarbeiten und zu analysieren, ermöglicht es KI auch, komplexe theologische Fragen zu erforschen und tieferes Verständnis zu vermitteln. KI könnte dazu beitragen, religiöse Gemeinschaften zu stärken, indem sie personalisierte Ratschläge und Unterstützung bietet. Virtuelle Gemeinden könnten Menschen über geografische Grenzen hinweg verbinden und den Zugang zu religiösen Ressourcen erleichtern. Darüber hinaus könnten KI-Systeme dazu beitragen, ethische Dilemmata zu lösen und theologische Diskussionen zu fördern. 

Paradies oder Katastrophe?
Doch wo der Himmel so nah, da ist die Hölle nicht weit; denn die Einführung von KI in religiöse Kontexte bringt auch erhebliche Gefahren mit sich. Die Möglichkeit von Missbrauch und Manipulation ist real, insbesondere wenn KI dazu verwendet wird, religiöse Überzeugungen zu instrumentalisieren oder zu beeinflussen. Die «Ethik» von autonomen KI-Systemen in religiösen Kontexten muss sorgfältig überwacht werden, um sicherzustellen, dass sie den Grundsätzen der Religionsfreiheit und Vielfalt gerecht wird. Religionen haben oft eine tiefe Verwurzelung in Tradition und Ritualen. Die Einführung von KI könnte die Balance zwischen der Bewahrung dieser Traditionen und der Integration innovativer Technolo­gien herausfordern. Es ist wichtig, eine Brücke zwischen dem Erbe der Religion und den Fortschritten der Technologie zu schlagen, ohne die Essenz der spirituellen Praxis zu verlieren. Um diese Verantwortung wahrzunehmen, wird theologisches Engagement unabdingbar sein. So sollten Theologien die Einzigartigkeit des Menschen, seine Würde und seine Verantwortung für die Schöpfung in allen zentralen Belangen der KI-Forschung ins Zentrum der Diskussion stellen und einer Entmenschlichung gezielt entgegenwirken. Denn eine Maschine, wie intelligent sie auch scheinen mag, ist nie eine moralische Agentin. Intelligente Systeme können nie alle Erfahrungen mit Menschen teilen. Hier gilt es für die Theologie, das unverwechselbar Humane zu stärken, die das Menschsein unabdingbar ausmachen: Beziehung, Begegnung und Kooperation.  

Benjamin Labatut: Maniac. Roman. Suhrkamp Verlag 2023.

Manuela Lenzen: Künstliche Intelligenz. Was sie kann und was uns erwartet. Beck Verlag 2023.