Reto Stampfli | Chefredaktor
Editorial
Rom, Rom, über alles!
Eigentlich könnte man davon ausgehen, dass der Zwist zwischen Katholiken und Protestanten in der Schweiz längst Geschichte ist. Dass jedoch unter der Asche noch Glut schwelen kann, hat vor wenigen Jahren die Aufregung gezeigt, als die Idee einer Schweizer Botschaft im Vatikan aktuell wurde. Plötzlich fühlte man sich in die Irrungen und Wirrungen des 19. Jahrhunderts zurückversetzt. In eine Zeit, als das päpstliche Rom bei einer Mehrheit der Katholiken noch als Leitstern galt und auf protestantischer Seite Ängste und Abwehrreaktionen auslöste.
Der Kirchenhistoriker Urban Fink-Wagner zeigt diese explosive Situation eindrücklich im Schwerpunkt-Artikel in dieser Ausgabe in Bezug auf den Kanton Solothurn auf. Eine Mehrheit konservativer Katholiken, die aus Angst insbesondere vor dem Verlust kultureller Identität an den Traditionen festhalten wollte, lehnte unter Hinwendung nach Rom die Moderne mehr oder weniger stark ab (Ultramontanismus). Die katholisch-konservative Seite organisierte auch den Widerstand gegen die Bundesrevisionsbestrebungen. Diese Tendenz wurde durch den Aargauer Klosterstreit, die Luzerner Jesuitenfrage, den Sonderbundskrieg und die anschliessende freisinnig-radikale Reaktion in traditionell katholisch-konservativen Kantonen entscheidend gefördert. Doch diese Spannungen brachten nicht nur Katholiken und Protestanten auseinander, denn es gab innerkatholisch auch eine keineswegs homogene Minderheit liberaler Katholiken. Diese Bewegung richtete sich nach dem Erbe der katholischen Aufklärung aus und strebte eine Verbindung von Katholizismus und moderner Gesellschaft an. Diese Gruppe verlor 1873 durch die Abspaltung des Alt-Katholizismus seinen radikalen Flügel (Christkatholische Kirche) und verstärkte im Kulturkampf den Prozess der Blockbildung. Heute staunt man über diese historischen Tatsachen und auch über den Umstand, dass wir zwar in diesem Jahr 150 Jahre Totalrevision der Bundesverfassung (1874) feiern, die Integration der Katholisch-Konservativen in den Bundesrat aber erst 1891 erfolgte.
Mit freundlichen Grüssen
Reto Stampfli