Aktuelle Nummer 24 | 2025
16. November 2025 bis 29. November 2025

Schwerpunkt

Der «tolle Mensch»

Nietzsche und die Religion
von Reto Stampfli

Vor 125 Jahren starb der Ausnahmedenker Friedrich Nietzsche. Er wurde mit Bezeichnungen wie ­Finsterling, Menschenfeind oder «Alleszermalmer» belegt. Doch diese Zuschreibungen werden ­Nietzsche nicht gerecht. Er analysierte den modernen Sinnverlust wie kein anderer, und seine ­kontroversen Aussagen zu Religion und Gesellschaft fordern uns bis heute heraus. 

Der oft zitierte Satz «Gott ist tot» gehört wohl zu den am meisten missverstandenen Aussagen der Philosophiegeschichte und hat ein Eigenleben entwickelt. Mit diesem Satz wird Nietzsche heute zuallererst in Verbindung gebracht. Er steht in seinem Werk «Die Fröhliche Wissenschaft» von 1882. Was kaum einer weiss: Es handelt sich dabei nicht um ein persönliches Verdikt Nietzsches, denn der Autor legt diesen folgenreichen Satz einer seiner Figuren in den Mund, dem «tollen Menschen», einem Wahnsinnigen und Seher, der vom Volk nicht verstanden wird, und baut ihn in eine Erzählung ein: «Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken: Wohin ist Gott? Rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!» Nietzsche behauptete damit also nicht, dass Gott im religiösen Sinn tatsächlich gestorben sei, sondern er benutzte die Aussage als diagnostische Metapher für einen kulturellen und geistigen Umbruch in Europa. Sie handelt von den Problemen, die in einer Welt entstehen, in der die Menschen den Glauben an Gott abgelegt, ihn also «getötet» haben. Mit diesem Glauben ist auch ein höherer Sinn im menschlichen Dasein verloren gegangen: «Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet.»

Ende des traditionellen ­Glaubens
Nietzsche resümierte, dass die Aufklärung, die moderne Wissenschaft und der Rationalismus die Autorität der christlichen Religion und ihrer metaphysischen Grundlagen erschüttert hatten. Viele Menschen hielten zwar noch formal am Glauben fest, doch im praktischen Leben und Denken war er zunehmend wirkungslos. Seine provokative Aussage «Gott ist tot» könnte man also folgendermassen erklären: Der Glaube an den christlichen Gott, der jahrhundertelang Sinn, Ordnung und Werte garantierte, hat seine bindende Kraft verloren. Für Nietzsche führt das schlussendlich zu einer tiefen Krise: ein Nihilismus, in dem die Menschen keinen höheren Zweck mehr sehen und alle Werte relativ erscheinen. Doch Nietzsche sieht den Tod Gottes zugleich als Bedrohung und als Möglichkeit: Einerseits droht Orientierungslosigkeit, Sinnverlust und Verfall, andererseits die Möglichkeit, neue Werte aus dem Menschen selbst he­raus zu schaffen, jenseits von Dogmen und überlieferten religiösen oder metaphysischen Systemen.

Der Übermensch
Friedrich Nietzsche prägte den Begriff «Übermensch» vor allem im Werk «Also sprach Zarathustra» (1883–1885). Er meinte damit auf keinen Fall ein «höheres Wesen» im biologisch-rassistischen Sinne, wie es später bewusst im Nationalsozialismus verformt wurde, sondern eine Idealfigur des Menschen, der über die bisherigen Werte und Grenzen hinauswächst. Der Übermensch erscheint als Gegensatz zum «letzten Menschen», der für Bequemlichkeit und Mittelmass steht. Der Übermensch bejaht das Leben, wagt Neues und schöpft eigene Werte. Für Nietzsche ist der Mensch etwas, das überwunden werden soll – er soll sich nicht mit dem Gegebenen zufriedengeben, sondern ständig über sich hinauswachsen. Mit der «Umwertung aller Werte» ruft Nietzsche dazu auf, die bisherigen moralischen Massstäbe (besonders die christlich geprägte Moral von Schuld, Demut, Jenseitsorientierung) zu hinterfragen. Der Übermensch erschafft eigene Werte, die das Leben und die Erde bejahen, statt sie zu verneinen; er spricht ein radikales «Ja» zum Leben aus und erkennt es als schöpferischen Prozess an. Der Übermensch ist für Nietzsche ein Idealbild des Menschen, der sich selbst überwindet: «An ihre grosse Gräberstrasse setzte ich mich und selber zu Aas und Geiern ... Dort wars auch, wo ich das Wort ‹Übermensch› vom Wege auflas, und dass der Mensch etwas sei, das überwunden werden müsse, – dass der Mensch eine Brücke sei und kein Zweck ... Ich lehre euch den Übermenschen ... Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham ... Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. (Also sprach Zarathustra, S. 147)

Der Beinahe-Pfarrer
Friedrich Nietzsche gehört mit seiner scharfen Moral-, Religions- und Kulturkritik bis heute zu den einflussreichsten Denkern. Er selbst wuchs in eben jenem frommen und beengten Milieu auf, das er später in seinen Schriften angriff. Am 15. Oktober 1844 erblickte er im sächsischen Röcken das Licht der Welt. Sein Vater, wie viele in der Familie evangelischer Pfarrer, stirbt, als Nietzsche fünf Jahre alt ist. Anschliessend wächst der intellektuell auffällige Junge in einem reinen Frauenhaushalt auf. Zunächst studierte Nietzsche dennoch evangelische Theologie, brach aber rasch ab, um sich ganz der klassischen Philologie zu widmen. Er erwies sich als so begabt, dass er ohne Doktortitel eine Stelle als Professor in Basel erhielt. Diese Tätigkeit musste er allerdings mit 35 Jahren krankheitsbedingt aufgeben. In Basel stand Nietzsche in ständigem Austausch mit anderen Gelehrten, beispielsweise mit dem Religionswissenschaftler Johann Jacob Bachofen und dem Kulturhistoriker Jacob Burckhardt. In der Schweiz – am Rheinknie oder im Oberengadin – produzierte Nietzsche die meisten seiner Schriften.  

Nietzsche sah die Moderne in einer Sinnkrise. Über seinen persönlichen Glauben sagen seine bekannten Zitate nach einhelliger Forschungsmeinung wenig aus. Er war weder Atheist noch gläubiger Christ, und doch setzte er sich in sämtlichen seiner Schriften mit religiösen Themen auseinander – mit der Götterwelt der alten Griechen, mit Katholizismus und Protestantismus, mit Buddhismus, Hinduismus und Islam. Mit seinen Ideen und seinem Stil sprengte Nietzsche die Grenzen des Denkens, das bis zu seiner Zeit üblich gewesen war. Viele seiner Fragestellungen sind heute noch relevant: Institutionen verlieren auch in unserer Zeit an Glaubwürdigkeit, das Elend durch Kriege und Klimakrise lässt, wenn nicht auf eine Tötung Gottes, dann doch auf Gottvergessenheit oder Gottlosigkeit schliessen.

1889 umarmte Nietzsche, 45-jährig, in Turin, von Mitgefühl überwältigt, ein geschundenes Pferd. Er wurde nach Basel in eine Nervenklinik gebracht, wo die Ärzte Paralysa progressiva diagnostizierten; die Folge einer Syphilis-Ansteckung, die er sich in jungen Jahren bei einem Bordellbesuch aufgelesen hatte. Nietzsche lebte die letzten Jahre bei seiner Mutter und seiner Schwester und verfiel langsam psychisch und körperlich. Bis zum Ende seines bewussten ­Lebens versandte er sogenannte «Wahnsinnszettel». Darin stilisierte er den Kon­trast «Dionysos gegen den Gekreuzigten», also Jesus. Unter anderem aus Nietzsches beinahe manischer Beschäftigung mit dem Thema Religion schliessen einige Forscher, dass er nie ganz von Gott loskam, sondern Gott nur neu für sich gewann.  

Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. Kritische Studienausgabe (KSA) in 15 Bänden, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, Band 3, S. 480-482.