Reto Stampfli | Chefredaktor
Editorial
Ein seltener Vogel
In Sils-Maria im Oberengadin steht das Nietzsche-Haus. Den Besuch dieser denkwürdigen Stätte lässt sich kaum ein Tourist entgehen, denn der lokale Verkehrsverein bietet alles Mögliche an: Lesungen vor Ort, Ausstellungen, Spezialführungen, und ein Nietzsche-Wanderweg beginnt direkt hinter dem Haus. Es scheint, als schwebe der Geist des grossen Philosophen noch heute über dem beschaulichen Dorf.
Friedrich Nietzsche ist zweifellos ein attraktiver Philosoph. Dabei steht nicht sein Äusseres oder sein tragisches Schicksal im Vordergrund; nein, der Pfarrerssohn überzeugt durch seine messerscharfen und entwaffnenden Äusserungen. Seine Texte besitzen aufgrund seiner Wortgewandtheit gleichzeitig auch einen nicht zu unterschätzenden Unterhaltungswert. «Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere», lautet eine seiner spitzen Formulierungen. «Liebt euren Nächsten gleich euch selber, vorausgesetzt, dass ihr euch selber liebt», knallt er als psychologisch gefärbte Formel den Christen vor die Nase. Dabei wird leicht vergessen, dass Nietzsche uns nichts Geringeres als den «Tod Gottes» verkündet hat. Der «tolle Mensch», den er an seiner Statt den Tod Gottes proklamieren lässt, konnte das epochale Ereignis nicht fassen und lief voller Entsetzen am hellen Vormittag mit einer Laterne auf den Markt und schrie unaufhörlich: «Ich suche Gott! Ich suche Gott!» Er durchbohrte die Menschen mit seinen Blicken. Sie lachten ihn aus. «Wohin ist Gott?», rief er verzweifelt, «ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich!» Fragen und Anschuldigungen, welche man nicht einfach so unberührt im Poesiealbum stehen lassen kann.
Ein kauziger Philosoph als Touristenmagnet. Vor dem Nietzsche-Haus, einem unauffälligen Bau mit einer mächtigen Adler-Skulptur aus Bronze im Garten, herrschte bei meinem letzten Besuch ein mächtiger Andrang. Das Volk kommt zum Weisen, ein Denker bewegt die Massen; das liess mein Herz höherschlagen. Zufrieden hielt ich inne. Eine leise Ernüchterung machte sich jedoch in mir breit, als ich eine ältere Dame in voller Fahrradmontur auf dem Gehsteig vor dem Nietzsche-Haus belauschte, welche ihren Sport-Kolleginnen erklärte, dass sich Max Nietzsche vor allem als Ornithologe mit der Forschung im Bereich der Greifvögel einen Namen gemacht habe.
Mit philosophischen Grüssen
Reto Stampfli