Der Traum von Glanz und Herrlichkeit

Gedanken zum Sonntag, 21.Oktober 2018 – (Markusevangelium 10,35 – 45)

 

Wer unvoreingenommen diesen Textabschnitt beim Evangelisten Markus (10,35–45) liest, kann eigentlich nur erstaunt sein über die Naivität der beiden jungen Männer, die Brüder Jakobus und Johannes aus dem Jüngerkreis. Sie bitten Jesus, ihnen erste Plätze zu reservieren. Sie möchten rechts und links von ihm sitzen in seiner Herrlichkeit – wie es wörtlich heisst. Lassen sie sich dabei leiten von ihren Jenseitsvorstellungen? Oder glauben sie allen Ernstes daran, dass sie Jesus in absehbarer Zeit als politischen Helden feiern dürfen, der das Volk von der Vorherrschaft der römischen Weltmacht befreit haben wird? Wenn ja, dann erweisen sie sich auch da als politische Naivlinge. Umso deutlicher stellt sich im Folgenden heraus, worum es Jesus geht. Oder eben nicht geht.

Jesus holt das Brüderpaar herunter auf den Boden der Realität, wenn er fragt, ob sie den Kelch trinken können, den er trinken wird. Ganz locker sagen sie ja. Sie haben wohl kaum erfasst, was Jesu Frage beinhaltet. Die Frage ist von starker Symbolik.  Es handelt sich um den Kelch des Leidens, womit Jesus andeutet, dass ihm irgendwann ein gewaltsamer Tod bevorstehen wird. Eigentlich müssten sie und alle anderen Jünger bereits eine Vorahnung davon gehabt haben, dass so etwas passieren könnte. Stattdessen träumen diese beiden Männer von Macht und Glanz in einem Reich, wo Jesus seine Herrschaft aufrichten wird.                                         

Zu schnell – so denke ich – rümpfen wir hier die Nase. Nur wenige Menschen schaffen es, böse Vorahnungen wirklich hochkommen zu lassen. Lieber halten wir fest an Hoffnungen und Träumen, dass am Ende doch noch alles gut herauskommen könnte. Das sollte man uns zunächst nicht verargen. Doch wie werden wir uns verhalten, wenn die Realität über uns hereinbricht?

Im Text bei Markus wird als erstes der Unmut der anderen Jünger erwähnt. Sind sie neidisch, eifersüchtig? Oder halten sie sich für klüger und „wissender“? Kurzum, ihnen allen erteilt Jesus eine Lektion von einmaliger Radikalität: Ihr wisst, die Herrscher und Mächtigen unterdrücken die Völker und missbrauchen ihre Macht. Bei euch soll es nicht so sein. Wer gross sein will, sei der Diener aller. Punkt.

Damit spricht Jesus zu uns allen, die wir unsere kleine oder grössere Macht zu hüten und zu verteidigen suchen.

 

Ingrid Grave ist Dominikanerin in Zürich, wo sie sich in der Seelsorge engagiert