Hans Zollner: «Die Einsicht und ehrliche Bitte um Vergebung fehlt noch immer»

Es liesse sich derzeit noch nicht absehen, welche Konsequenzen aus den Ermittlungen erwachsen und wann diese mitgeteilt würden, schreibt Hans Zollner in der deutschen Kulturzeitschrift «Stimmen der Zeit». In seinem Artikel befasst sich der Spezialist zum Thema Missbrauch intensiv mit den Feststellungen der Anfang September veröffentlichten Missbrauchsstudie.

Grosse Zahl von Missbrauchsbetroffenen und Tätern

«Es ist hier geradezu kennzeichnend, dass vieles im Dunkeln liegt; dass aufgrund einer komplexen Sachlage, vielfältiger Verantwortlichkeiten und der geschichtlichen Abläufe oft noch nicht einmal klar ist, wer Licht in dieses Dunkel bringen könnte und originär müsste.

Insofern spiegeln der Bericht zum Pilotprojekt und die Nachrichten, die ihn schon im Vorhinein begleitet haben, das wider, was sich bei ähnlichen Gelegenheiten in der Vergangenheit immer wieder abgespielt hat. Grosse Aufregung, anhaltende Nervosität und nebulöse Äusserungen zementieren insgesamt folgendes Bild: In der katholischen Kirche gibt es nicht nur eine grosse Zahl von Missbrauchsbetroffenen und entsprechenden Tätern.

Darüber hinaus ist Kirche sowohl in der Aufklärung und Aufarbeitung als auch in der Öffentlichkeitsarbeit bestenfalls hoffnungslos überfordert. Im schlimmsten Fall aber tritt ein widerwilliges oder gar dezidiert destruktives und defensives Vorgehen zu Tage».

Verlust an Glaubwürdigkeit

Weiter schreibt der Präventionsexperte, dass sich dies nicht rational erklären liesse, aber er dieses «traurige Schauspiel» in den letzten Jahrzehnten immer wieder beobachten konnte. Ebenso wie dessen Folgen, allen voran der massive Verlust an Glaubwürdigkeit.

«Dabei sollte man doch meinen, es dürfte nicht zu schwer sein, aus vergangenen Fehlern zu lernen. Doch – wie auch der Bericht zum Pilotprojekt auf vielfältige Weise demonstriert – sind die Mechanismen zur Selbstkontrolle, zu einem kontinuierlichen Lernprozess und zur Verbesserung des Vorgehens nicht oder nur sehr spärlich ausgeprägt.

Immer noch scheinen Bischöfe, Bischofskonferenzen, Ordensobere und Ordensgemeinschaften zu glauben, dass sie am besten über Missbrauch schweigen sollten, damit kein Skandal dem Bild ihrer selbst und der Kirche insgesamt schaden möge. Immer noch verhalten sie sich so, als ob das, was in anderen Ortskirchen geschehen ist, für sie nicht gelten wird und bereiten damit die Grundlage für einen immensen Schaden».

Verschweigen nicht länger tolerierbar

Die Einsicht fehlte laut Zollner noch immer: Mit Blick auf die Zukunft wäre es besser und ehrlicher, zuzugeben, dass in der Kirche gravierende Fehler gemacht und Verbrechen gedeckt wurden, und angesichts dessen ehrlich um Vergebung zu bitten.

Die breite Öffentlichkeit und auch Katholiken und Katholikinnen würden ein Verschweigen und Verleugnen eigener Verantwortlichkeit nicht länger tolerieren, schreibt Zollner weiter. Vielen in der Kirche sei dabei nicht bewusst, dass Misstrauen gegenüber Bischöfen und anderen Kirchenvertretern vor allem mit mangelndem Vertrauen in deren Glaubensbotschaft einhergehe.

Dabei dränge es sich doch geradezu auf, dass man der Botschaft weniger Glauben schenkte, «wenn deren Übermittler in seinen Worten und Taten nicht glaubwürdig ist. Wer Wasser predigt und Wein trinkt, zerstört allmählich die Grundlage des Glaubens selbst.»

Versetzung häufiges Mittel

Aus der Pilotstudie werde klar, dass die Versetzung von Priestertätern auch in der Schweiz ein häufig angewendetes Mittel gewesen sei. Am neuen Ort seien die dortigen Verantwortlichen nicht immer über die Vergangenheit eines Priesters aufgeklärt worden – und die Gemeinden in der Regel überhaupt nicht.

Erschwerend komme hinzu, dass die Verantwortlichen häufig darauf verzichtet hätten, einschlägige Fälle an die Glaubenskongregation in Rom zu melden. Diese Erkenntnis sei angesichts der inzwischen zahlreichen Studien aus anderen Ländern, Bischofskonferenzen, Bistümern, Ordensgemeinschaften oder kirchlichen Institutionen zwar wenig überraschend, doch deshalb «nicht weniger erschütternd».

Herauskommen aus der Lähmung

Es gelte deshalb aus der Lähmung massloser Enttäuschung und Wut herauszukommen und Betroffen von Missbrauch anzuhören. Vor ihren Geschichten und ihren Anliegen solle man nicht weglaufen, ihren Schmerz und ihre Verwundungen so weit wie möglich mittragen – und im Gespräch mit ihnen herausfinden, wie Kirche und Gesellschaft dabei helfen kann, Missbrauch so weit wie möglich zu verhindern.

«Viel zu oft wurden nämlich bisher den Betroffenen die Türen zugeschlagen, wenn sie sich äussern wollten; wurden die Täter auch von Pfarrgemeinden und deren Laienvertretern milde behandelt und von Vorgesetzten versetzt; stand der Ruf von Pfarreien, Diözesen und Kirche zu weit oben auf der Prioritätenliste». (kath.ch)

Der Jesuitenpater Hans Zollner (57) analysiert in einem Artikel mit dem Titel «Vertuschung» in der Zeitschrift «Stimmen der Zeit» detailliert die Schweizer Missbrauchsstudie. Der Theologe, Psychologe und Psychotherapeut leitet das römische «Institut für Anthropologie» (https://iadc.unigre.it/). Von 2014 bis 2023 war er Mitglied der Päpstlichen Kinderschutzkommission. In einer persönlichen Erklärung nannte er «strukturelle und praktische Probleme» als Gründe für seinen Rücktritt im März 2023. (sas)