Franz-Xaver Hiestand: «Ich will Menschen bewegen – wie die Hebamme bei Platon»

Franz-Xaver Hiestand macht vorsichtig die Tür zum Aki auf. Das katholische Akademikerhaus am Hirschengraben 86 in Zürich ist eigentlich noch geschlossen. Wegen Umbaus. Riesige Säcke mit Humus stehen im Vorgarten. Gerüstteile liegen da und dort. Einzelne Plastikplanen hängen wie eilig aufgerissenes Geschenkpapier herunter. Das neue Aki ist ein frühes Weihnachtsgeschenk. Am ersten Adventssonntag war Bescherung. Das Haus ist wieder geöffnet.

Am Aki vorbei fliesst täglich der Studierendenstrom zwischen Hauptbahnhof und Hochschulen. Vom Polybähnli ist es auch zu sehen. Jetzt umso mehr, weil es einen neuen Anstrich bekommen hat: dunkelrot, erdig.

Katholisch leben, braucht einen langen Atem

«Heute an Hochschulen zugleich weltoffen und katholisch zu leben, braucht einen langen Atem», sagt Franz-Xaver Hiestand: «Viele Studierende finden uns rückständig, verdächtig oder ineffizient. Und für andere, die erst kürzlich konvertiert haben, irritierend freigeistig.»

Seit den 1970er-Jahren ist die Zahl der Studierenden in den Hochschulgemeinden rückläufig. In Luzern ziehen sich die Jesuiten aus der Hochschulseelsorge zurück. In Zürich werden sie aber bleiben, versichert Franz-Xaver Hiestand. Der Jesuit ist stolz auf das neue Aki, das mehr als hundert Jahre auf dem Buckel hat. Aber ein bisschen Angst hat er auch. Er hofft, dass die Studierenden das Haus so schätzen werden wie er.

Die neuen Räume des Aki

Mit ruhiger Stimme erklärt er ausführlich, wie die neuen Räume auf ihn wirken: «Die Kapelle greift nach Licht. Sie vermag zu entrücken, zu sammeln oder zu erregen», sagt der Jesuit.

Rachel Philipona bereitet unter Hochdruck das Eröffnungsfest vor. Sie ist die Betriebsleiterin des Akademikerhauses. Ihr Schreibtisch scheint auch Schaltpult zu sein. Hier laufen die Fäden zusammen. Ohne sie hätte Franz-Xaver Hiestand den Umbau weder gewagt noch gewollt, sagt der Hochschulseelsorger.

Philosophische Hebamme

«Ich will Menschen bewegen. Aber nicht wie ein lauter Charismatiker, sondern wie die philosophische Hebamme beim antiken Denker Platon. Diese begleitet die Wege von anderen Menschen schonungslos oder verunsichert, beherzt oder schweigend, auch wenn diese Wege manchmal Umwege sind oder abbrechen.» Das neue Aki sei ein Gemeinschaftswerk von Planern, Architektinnen, Sponsoren und sehr guten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

«Ich habe Freude daran, Teil eines Kollektivs zu sein», sagt der Jesuit, der mit fünf anderen Jesuiten im Haus neben dem Aki wohnt. Im Kollektiv zu leben, kennt er seit Kindertagen. Kurz nach Beginn der sechsten Klasse in Wald im Zürcher Oberland ging er mit elfeinhalb Jahren ans Jesuiten-Gymnasium «Stella Matutina» nach Feldkirch. Den Weg an die nächste Kantonsschule hätten ihm seine Eltern ersparen wollen, sagt er etwas ironisch, aber nicht ohne Dankbarkeit. Auch seine zwei Geschwister hätten eine gute Bildung erhalten.

Von den Jesuiten zu den Benediktinern

1976, nach zwei Jahren Unterricht, wurde jedoch die «Stella» in Feldkirch geschlossen. Mit zwei Kameraden ging’s nach Disentis: von den Jesuiten in Vorarlberg also zu den Benediktinern in die Schweizer Alpen.

«Der pädagogische Eros der Jesuiten war viel stärker spürbar», sagt Franz-Xaver Hiestand. In Feldkirch hätten die Lehrer ein grosses Interesse an den einzelnen Schülern gehabt. Ihr Ziel sei es gewesen, das Potential jedes Einzelnen zu entwickeln. Bisweilen sei das auch etwas elitär rübergekommen. Die Gefahr sexueller Missbräuche sei grösser gewesen als bei den Benediktinern.

In Disentis seien die Schüler autonomer gewesen als bei den Jesuiten, manchmal auch alleingelassen. «Die Benediktiner waren mit uns bisweilen überfordert», sagt Franz-Xaver Hiestand. «Um Themen wie Liebe und Sexualität haben sie einen Bogen gemacht und Konflikte unter uns häufig ignoriert.» Von Entwicklungspsychologie hätten «die wenigsten Lehrer eine Ahnung» gehabt.

Schwimmen im Strom der Kirche

Dennoch sei die Zeit in der «Weissen Arche» in Disentis sehr produktiv gewesen. Die festen Studierzeiten, die Rituale, auch die regelmässigen Gebetszeiten gaben dem Jugendlichen Halt. «Für mich war die Kirche wie ein Strom, mit dem ich mitschwimmen wollte, auch wenn ich Vieles fragwürdig fand», sagt der Jesuit.

Nach der Matura studierte Franz-Xaver Hiestand Germanistik und Latein in Zürich. In einem Germanistik-Seminar erlebte er zum ersten Mal in seinem Leben eine Diskussion über religiöse Fragen auf eine Art, die nicht verklemmt, defizient und schambehaftet, sondern im Gegenteil geradezu avantgardistisch war.

Schleier der Scham gelüftet

Für ihn war es ein beglückender Moment, als der Literatur-Professor Urs Herzog das Exerzitien-Buch von Ignatius von Loyola Weltliteratur nannte. «Auch die Feministinnen und die Marxisten im Seminar liessen sich von religiösen Themen mitreissen. An diesem Punkt hat sich der Schleier gelüftet, der seit meiner Kindheit in der Diaspora im reformierten Zürcher Oberland auf mir lag», erzählt Franz-Xaver Hiestand. «Hier katholisch zu sein, fühlte sich an, wie ständig einen fast durchsichtigen, kaum greifbaren und doch realen Schleier zu tragen.»

Bisweilen überrascht der abwägende Jesuit mit pointierten Ansichten: In der Schweiz müsste «woke» auch heissen, endlich die subtilen und unverhüllten Diskriminierungen systematisch aufzuarbeiten, mit denen Reformierte und Katholiken sich jahrhundertelang beschädigten.

Endlich dazugehören

Umso wichtiger war für Franz-Xaver Hiestand der 20. Mai 1973. Damals strichen die Schweizerinnen und Schweizer die konfessionellen Ausnahmeartikel in der Bundesverfassung. Das Klostergründungs- und das Jesuitenverbot wurden aufgehoben. Das sei befreiend gewesen für seine Familie und für die ganze katholische Schweiz: «Jetzt gehören wir endlich dazu.».

Besonders wichtig war die Verfassungsänderung für den Cousin der Mutter, der selbst Jesuit war. Er sei der einzige Intellektuelle der Familie gewesen und eine wichtige Referenz für seine Entwicklung, sagt Franz-Xaver Hiestand.

1984 trat er eine Stelle als Deutsch- und Lateinlehrer in Urdorf an. Von seinen Professorinnen und Professoren an der Universität hatte er gelernt: Nicht die perfekte Interpretation eines Gedichtes ist das Ziel, sondern das gemeinsame Ringen darum.

Seit 1992 in der Hochschulseelsorge

Nach einer längeren Lateinamerika-Reise entschloss sich Franz-Xaver Hiestand 1988, ins Noviziat der Jesuiten einzutreten. 1992 arbeitete er zum ersten Mal als Assistent des Hochschulseelsorgers im Aki Bern, das er nach seinem Theologie-Studium von 1998 bis 2006 leiten würde. Danach baute er die Hochschulseelsorge in Luzern auf und übernahm schliesslich die Hochschulgemeinde Zürich.

Mit seiner ruhigen Art wirkt er weniger sendungsbewusst als andere Schweizer Jesuiten wie Peter Henrici, Christian Rutishauser oder Hansruedi Kleiber. Franz-Xaver Hiestand schätzt die Freiheit, die die Jesuiten in der Schweiz atmen – und die sie sich nehmen. Selbst in den härtesten Lockdown-Zeiten, als alles verboten war, feierten die Zürcher Jesuiten gemeinsam Gottesdienst. Kaum eröffneten sich unklare Freiheitsräume, zelebrierte Franz-Xaver Hiestand mit Studierenden im Aki-Garten Eucharistie.

Ein Ort für Sehnsüchte

Advent heisst Ankunft. Welche Sehnsüchte haben die Studierenden in der Adventszeit? «So direkt frage ich kaum», sagt Franz-Xaver Hiestand. Der Studiums- und Prüfungsstress belaste die Studierenden. «Umso mehr sehnen sie sich danach, mehr Zeit für sich zu haben und das, was ihnen wichtig ist.»

Franz-Xaver Hiestand liebt es, mit Studierenden «Sehnsuchtsräume» zu öffnen, wie er sagt: etwa bei Rorate-Feiern, beim spontanen Gespräch oder an einer Waldweihnacht. So bleibt das neue Aki ein Ort der Sehnsucht. (kath.ch)