Aktuelle Nummer 25 | 2023
03. Dezember 2023 bis 16. Dezember 2023

Schwerpunkt

Lob der Narrheit

von Reto Stampfli

Narren an die Macht! Was heute an der Fasnacht spielerisch geschieht, hat der grosse Theologe und Humanist Erasmus von Rotterdam in seinem epochalen Werk «Lob der Narrheit» als gesellschaftliches Heilmittel empfohlen.   

Der Hofnarr trug als Insigne seiner närrischen Allgewalt ein Narrenzepter mit sich herum. Heute kann ähnliches «Machtgebaren» bei Obernarren während der Fasnacht beobachtet werden. Dieser Stab, der durch ein Narrenhaupt gekrönt wird, dient symbolisch als Umkehrung der eigentlichen Machtverhältnisse: Der Narr übernimmt während einer gewissen Zeit das Zepter und kippt die vertraute Konstellation aus ihren Fugen.

Der Narr und auch die Närrin stellen historisch und gesellschaftlich eine faszinierende und zugleich irritierende Figur dar. Die Tatsache, dass jeder von uns narrenhafte Züge trägt, macht den Narren anziehend und in gleicher Weise jedoch auch zu einem Symbol des menschlichen Versagens. Dabei gibt es einen wesentlichen Unterschied: Man kann sich zum Narren machen oder aktiv als Narr in Erscheinung treten. 

Lob der Narrheit
Im 16. Jahrhundert erhielt die Narrheit eine eigentliche Laudatio, denn 1511 erschien mit der Satire «Das Lob der Narrheit» («Laus stultitiae») ein Meisterwerk, dessen zeitloser Humor und feine Ironie bis in die heutigen Tage nachwirkt. Der Verfasser, ein katholischer Priester und Augustinerchorherr, hatte seine «Stilübungen», wie er sie nannte, seinem Freund Thomas Morus, dem bekannten englischen Schriftsteller und Parlamentarier, gewidmet. Mit Spott und Ernst trat Erasmus von Rotterdam (ca. 1464–1536), der niederländische Autor, tief verwurzelten Irrtümern entgegen und setzte sich für vernünftige Anschauungen ein. Er ging mit seiner Schrift ein grosses Risiko ein, doch er war davon überzeugt, dass die «Narretei» ein «allzeit wirksames Heilmittel» sei, um den Menschen einen Spiegel vorzuhalten. Humor, Witz und Ironie können mächtige «Waffen» sein:  

«Ich habe mich aber auch vor dem Vorwurfe zu bewahren, dass ich gar zu beissend sei. Man hat dem Witze zu allen Zeiten die Freiheit eingeräumt, das Tun und Lassen des Menschen durch eine scharfe Hechel zu ziehen, wenn er es nur nicht bis zur wilden Ausgelassenheit treibt. Ich muss mich also sehr darüber verwundern, wie verzärtelt heut zu Tage die Ohren geworden, denen bald alles unausstehlich ist, das sich nicht mit schmeichelhaften und stattlichen Titeln feierlich bebrämt [beschönigt] befindet.» (Das Lob der Narrheit, 8)

Erasmus wurde als nicht ehelicher Sohn eines katholischen Priesters und dessen Haushälterin in Rotterdam zwischen 1464 und 1469 geboren. Den Beinamen Desiderius (der Erwünschte) fügte er sich später hinzu. Von 1495 bis 1499 studierte er an der Sorbonne in Paris Theologie und hielt sich anschliessend abwechselnd in den Niederlanden, in Paris und in England auf; in Turin promovierte er zum Doktor der Theologie. 1514 zog es ihn in die Schweiz, wo er in Basel schrieb und dozierte, bis er durch die Reformation nach Freiburg im Breisgau vertrieben wurde. 1535 kehrte Erasmus in die Rheinstadt zurück und verstarb dort am 12. Juli 1536. Das hohe Ansehen, das er trotz seiner Ablehnung der Reformation genoss, zeigte sich darin, dass er in einer Zeit heftiger konfessioneller Auseinandersetzungen im mittlerweile protestantisch gewordenen Basler Münster beigesetzt wurde. 

Ein explosives Buch
Erasmus sah sich stets – vor allem mit der neuen Buchdrucktechnik – als ein Vermittler von Bildung: «Menschen werden nicht als Menschen geboren, sondern als solche erzogen!» Sein «gefährlichstes Werk», «Das Lob der Narrheit», brachte er innert einer Woche aufs Papier. Es wurde 1511 in Paris erstmals veröffentlicht, erlebte mehrere Auflagen in zahlreichen Sprachen, bis es auf dem Konzil von Trient (1545) indexiert und verboten wurde. 

Das später mit 83 Handzeichnungen des Malers Hans Holbein des Jüngeren illustrierte Werk wurde zu einem der meistgelesenen Bücher der Weltliteratur. Bereits in der Einleitung tritt die Protagonistin «Stultitia» als Frau mit schlechtem Ruf an ein Katheder, bekennt sich als personifizierte Narrheit und lobt genussvoll ihre «Tugenden». Sie ist sich bewusst, dass sie nicht überall gern gesehen ist und vor allem bei den Mächtigen und Einflussreichen Unruhe auslösen kann:

«Was die Sterblichen auch immer von mir schwatzen mögen (ich weiss es, meine Herren, ich weiss es, in welchem bösen Ruf die Narrheit auch bei den grössten Narren steht), so bin doch ich es, ich, wie Sie mich hier vor sich stehen sehen, durch deren übermenschliche Kraft den Herzen der Götter und der Menschen die muntersten Freuden eingeflösst werden.» (11)

In ironischer Überzeichnung lässt Erasmus die «Weltherrscherin» Stultitia, die sich mit ihren Töchtern Eigenliebe, Schmeichelei, Vergesslichkeit, Faulheit und Lust die Welt untertan gemacht hat, sich loben, und zielt dabei mit rhetorischer Eleganz auf die Dummheiten und Laster der Menschen. Undiplomatisch liest Stultitia der erstaunten Leserschaft die Leviten, nimmt fromme Christen, Fürsten, Juristen, Mönche, Heilige und Gelehrte aufs Korn und zeichnet auf raffinierte Art und Weise ein Spiegelbild der Zeit. Ungefiltert, in närrischer Direktheit bemerkt sie:  

«Was ihr von mir zu hören bekommt, ist allerdings bloss eine einfache Stegreifrede, kunstlos, doch ehrlich. Und meint mir ja nicht, das, was ich sage, sei nach Redner-Manier gelogen, nur um mein Genie leuchten zu lassen.»

Den Zuhörern erklärt die fiktive Rednerin in ihrer Rede, gespickt durch Zitate aus Dichtung, Philosophie und Theologie, in satirischer Weise den unermesslichen Sinn der Dummheit. Die «verrückte Welt» und das gesamte menschliche Leben sind für sie nichts anderes als ein wildes Spiel: «Ein Verrückter lacht über den andern, und sie bereiten sich gegenseitig Vergnügen.» Freiheit kann allein der Narr schaffen, da er sich nicht an die Regeln hält, Abstand gewinnt und aus diesem unheilvollen Treiben ausbricht.    

Narren an die Macht!
Erasmus verfasste seine «Stilübung», die eigentlich als Rede gedacht war, als durchgängiges Werk ohne Kapitelüberschriften. Er hat mit seinem Werk einen erstaunlichen Balanceakt vollbracht, denn die Inquisition sass ihm im Nacken. Ihm gelang das waghalsige Kunststück, in dem er Kirche und Christen so kritisierte, dass er argumentieren konnte, nicht er, sondern nur eine Närrin, sprich Stultitia, könne eine solche Rede halten und ein solches Buch schreiben. 

Die Forderung «Narren an die Macht!» klingt auch in der heutigen Zeit zweischneidig, da einen in vielerlei Hinsicht der Eindruck beschleichen kann, dass das bereits auf der Weltbühne geschehen ist. Als Gegenmittel proklamiert Erasmus eine närrische Haltung, die der Gesellschaft, Politik und Religion regelmässig einen Spiegel vorhält. Diese heilsame Prozedur erhält einen nicht nur während der Fasnacht, sondern auch im Alltag jung und scharfsichtig:   

«Zum Überflusse kann ich mich auf eine alte Sache berufen, welcher zufolge die Narrheit das sicherste Mittel ist, die Jugend in ihrem schnellen Laufe aufzuhalten, und das ungeliebte Alter weit wegzutreiben.» (30)  

 

Zitiert aus: Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Narrheit. Diogenes Verlag. Zürich 2019 (5. Auflage).