Aktuelle Nummer 25 | 2023
03. Dezember 2023 bis 16. Dezember 2023

Schwerpunkt

Solidarität mit der Ukraine

von Kuno Schmid

Der Einmarsch russischer Panzer und Soldaten wird schon einen Monat zurückliegen, wenn Sie dieses Kirchenblatt erhalten. Und während ich diesen Text schreiben, ist nicht abzusehen, wie sich dieser Krieg entwickelt, wie viele Raketen und Geschosse noch auf ukrainische Städte abgefeuert, wie viele Menschen getötet, verwundet oder vertrieben, wie viel Leid und Zerstörung noch angerichtet ­werden. Hilflos und ohnmächtig müssen wir zusehen, können die Aggression nicht stoppen und fürchten uns vor weiteren Eskalationen. Da ist es wichtig, immer wieder zusammenzustehen, ­darüber zu sprechen, darüber zu lesen und immer neu zu schreiben, damit die Hoffnung nicht vergessen geht. Ich will nicht alle Einschätzungen der Expertinnen und Experten wiederholen, sondern ­Solidarität und Verbundenheit ausdrücken und die Rolle der Kirchen einordnen.  

Friedensgebete und Friedens­demonstrationen
Es ist in diesen Tagen eindrücklich, wie die Menschen und Staaten in ganz Europa einig und geschlossen zusammenstehen und gegen diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Wladimir Putins protestieren. Menschen aller Couleur solidarisieren sich mit dem leidenden ukrainischen Volk und sind bereit, einschneidende Sanktionen mitzutragen. Diese Solidarität wird sichtbar in all den Protestaktionen auf Strassen und Plätzen. Sie machen spürbar, dass man nicht allein ist mit seiner Wut und Ohnmacht, mit Schmerz und Trauer. In Friedensgottesdiensten oder spontanen Momenten der Andacht erfahren viele die Kraft des gemeinsamen Gebets. Diese Stärke habe ich besonders an der Friedenskundgebung vom 4. März 2022 in Solothurn erfahren. Junge Menschen aus der Schweiz, aus der Ukraine und aus Russland haben Entsetzen und Freiheitsliebe ausgedrückt und von ihren Kontakten zu verzweifelten Verwandten und Freunden berichtet. Die Stadtpräsidentin Stefanie Ingold und weitere politisch Engagierte haben ihre Betroffenheit ausgedrückt und den Krieg verurteilt. Bischof Felix Gmür hat mit emotionalen und eindrücklichen Worten die eigene und die ­Befindlichkeit und Verzweiflung aller benannt, denn wo Unrecht geschieht, da dürfe nicht geschwiegen werden. In sein Gebet für Frieden in der Ukraine hat er auch alle eingeschlossen, die in anderen Ländern unter Kriegen leiden. 

Schluss mit Gewalt
Die früheren theologischen Versuche, einen gerechten Krieg zu begründen, sind angesichts der Brutalität und Zerstörungskraft heutiger Kriege alle gescheitert. Krieg ist immer eine Katastrophe, ein Scheitern der politischen Verständigung. Aus christlicher Sicht bleibt die Maxime: Du sollst nicht töten! Wer sich nicht daran halte, müsse davon abgehalten werden, weiter zu töten, sagte Bischof Overbeck von Essen. Deshalb seien sowohl die Selbstverteidigung als auch wirtschaftliche Sanktionen ethisch gerechtfertigt. Es müsse alles unternommen werden, um weitere Opfer zu verhindern und die Gewalt zu stoppen. Gleichzeitig müssen alle Gesprächskanäle genutzt werden, um den Aggressor wieder an den ­Verhandlungstisch zurück zu holen und tragfähige Kompromisse zu suchen. Viele beklagen, dass doch Russland und die Ukraine zwei christlich geprägte Brudervölker mit gemeinsamen Wurzeln seien, und ein Dialog auf einer gemeinsamen Wertegrundlage möglich sein sollte. Der Krieg stellt deshalb auch Fragen an die Rolle der Kirchen. Die drei grossen Kirchen der Ukraine, die autokephale ukrainisch-orthodoxe Kirche, die ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats und die ukrainische griechisch-katholische Kirche haben in seltener Einigkeit und gemeinsam mit den muslimischen, jüdischen und evangelischen Minderheiten die Aggression der russischen Führung verurteilt und eine Beendigung des Kriegs gefordert. Im Unterschied dazu hat sich der Patriarch von Moskau, Kyrill I., nicht von Putin und seiner Kriegspolitik distanziert. Weltweit fordern orthodoxe und andere Christen den Patriarchen auf, diese Haltung zu ändern. 

Gemeinsame orthodoxe Herkunft 
Alle drei grossen Kirchen sind in der ostkirchlichen Tradition verwurzelt und gedenken ihrer Anfänge in der Zeit der «­Kiewer Rus». Das Wort «Rus» bedeutet in altnordischen Sprachen «Ruder» oder «Ruderer». Es war also eine Herrschaft der Ruderleute. Tatsächlich gehen diese ersten staatlichen Strukturen im 10. Jahrhundert auf die skandinavischen Wikinger (Waräger) zurück. Sie befuhren mit ihren Schiffen die Flüsse Osteuropas von Nord nach Süd und sicherten den Handel zwischen Skandinavien und der oströmischen Hauptstadt Byzanz (Konstantinopel, heute Istanbul). Über diese Handelswege fand das Christentum den Weg von Byzanz nach Norden. Die Missionare Kyrill und Method übersetzten die griechische Liturgie und schufen das kyrillische Alphabet, das bis heute in Osteuropa verwendet wird. Die Gebiete der Kiewer Rus gehörten fortan kirchlich zum Patriarchat von Konstantinopel. Mit dem Einfall von Mongolenstämmen aus Zentralasien im 13. Jahrhundert zerfiel die Kiewer Rus in mehrere Fürstentümer. Die nord-östlichen mussten sich den Mongolen unterwerfen, die süd-westlichen begaben sich unter den Schutz der litauisch-polnischen Monarchie. 

Grenzländer zwischen Ost und West
Das heutige ukrainische Staatsgebiet ­bekam im Spätmittelalter den Übernamen «Ukraine», wörtlich «Grenzgebiet». Die Menschen gehörten zur griechisch-orthodoxen Kirche und nutzten die kyrillische Schrift. Ihre Fürstentümer und Kosakenherrschaften waren jedoch abhängig von den katholischen Königen Polens. Die Eliten gebrauchten deshalb die polnische Sprache und die lateinische Schrift. Zudem lagen die ukrainischen Herrschaften an den Grenzen zum mongolisch besetzten russischen Osten und dem islamisch-türkischen Süden. Dem Grenzgebiet eröffnete dies Chancen für den kulturellen Austausch und ermöglichte es, Brückenbauerin zu sein. Ständig drohte aber auch die Gefahr, zwischen die konkurrierenden Mächte zu geraten. 

Ende des 16. Jahrhunderts konnte das Grossfürstentum Moskau die Mongolenherrschaft abwerfen. Es erreichte die Aufwertung seines Bischofssitzes zu einem eigenen Patriarchat (1589) und nannte sich fortan das «dritte Rom». Erstmals wurde nun der Anspruch formuliert, dass das russisch-orthodoxe Patriarchat von Moskau zuständig sei für alle orthodoxen Christen im «dreieinigen Russland», also in Russland, Belarus und der Ukraine. Die russischen Zaren machten sich dieses Programm auch politisch zu eigen. Diese Vereinnahmung lehnten die ukrainischen Bischöfe, die bisher zum griechisch-orthodoxen Patriarchat von Konstantinopel gehörten, ab. Mit Unterstützung und Druck Polens unterstellten sie sich in der «Kirchenunion von Brest» dem römischen Papst. Es entstand die griechisch-katholische Kirche, die zwar den ostkirchlichen Ritus beibehielt, aber bis heute zur katholischen Kirche gehört. Zahlreiche Gemeinden in der östlichen Ukraine lehnten diese Union ab, rebellierten und wandten sich der russischen Kirche zu. 

Im wechselnden Spiel der Mächtigen blieb die Westukraine mit Polen verbunden, die Ostukraine mit Russland. Die auf beiden Seiten gesprochene ukrainische Sprache wurde als gemeinsames Erbe gepflegt und beförderte die ukrainische Nationalbewegung. Doch erst nach der Zeit der sowjetischen Unterdrückung gelang es, 1991 ­einen unabhängigen Staat zu gründen. 2018 machte sich auch die ukrainisch-orthodoxe Kirche selbstständig und wurde als «autokephale» Kirche vom ökumenischen Patriarchen in Konstantinopel anerkannt. Dagegen protestierte das Patriarchat in Moskau heftig und löste die Kirchengemeinschaft mit Konstantinopel und anderen orthodoxen Kirchen auf. Der Moskauer Patriarch will die ukrainische Kirche wieder unter seine Hoheit bringen, sie vor «westlichen» Einflüssen schützen und das «dreieinige Russland» wiederherstellen. Putin nutzt dies, um seinen Krieg auch mit den Interessen der russischen Kirche zu legitimieren. Für einen tragfähigen Frieden lastet deshalb auf den Kirchen, insbesondere auf der russischen, eine grosse Verantwortung. Alle drei Kirchen sind von der Geschichte geprägt, hängen in den Konflikten mit drin und müssen zur Verständigung beitragen, denn «kein Frieden in der Welt, ohne Frieden unter den Religionen». (Hans Küng)