
Reto Stampfli | Chefredaktor
Editorial
Der «erste neue Mann»
1989 veröffentlichte der deutsche Journalist und Theologe Franz Alt (*1938) ein Buch, das durch die laufende Gender-Debatte erneut aktuell geworden ist. «Jesus, der erste neue Mann» ist ein Werk in schlichter Sprache, das über eine persönliche Gotteserfahrung berichtet und einen ungewohnten Blick auf Jesu Wirken wirft. Franz Alt zeigt auf, mit welcher Radikalität Jesus gegen die Selbstgerechtigkeit der Autoritäten seiner Zeit auftrat. Jesus als ein Mann, der an die Stelle von lähmendem Gehorsam eine Ethik der umfassend praktizierten Liebe setzte und auch sämtlichen Rollenbildern widersprach. Alt schreibt: «Ich nenne Jesus den ersten neuen Mann, weil er erstmalig Männliches und Weibliches integrierte und lebte. In der Schule von Frauen und Kindern hat Jesus eine kinderleichte Theologie gelernt und dann gelehrt, die das Gegenteil dessen ist, wie wir das Christentum bis heute verstanden haben. Der wirkliche Jesus ist der exemplarische Mensch, der uns einen Weg zu unserem Selbst zeigt, einen Weg aus unseren persönlichen Sackgassen.»
Der Theologe und Religionspädagoge Stephan Kaisser nimmt diesen Faden im Schwerpunktartikel dieses Kirchenblatts in Bezug auf Josef von Nazareth auf. Er führt aus, dass unser Bild von Jesu Vater wesentlich durch das Lukasevangelium geprägt ist. Ein Josef, über dessen Leichtgläubigkeit «echte Männer» noch heute lachen. Ihm wird «im Traum» eingeflüstert, dass seine Verlobte Maria von einem «Heiligen Geist» heimgesucht worden und jetzt schwanger sei. In der Kindheitsgeschichte des Matthäus begegnet uns hingegen ein starker, tatkräftiger und «moderner» Vater Josef. Er hat Jesus die ersten Schritte beigebracht und ihn im Lesen und Schreiben unterwiesen, ihm die Welt gezeigt und ihn zum Schreiner oder Architekten ausgebildet. Für den menschlichen Anteil an der Persönlichkeit Jesu Christi ist Josef jedenfalls direkt mit zuständig gewesen. Er hatte einen fundamentalen Einfluss auf den Werdegang seines Sohnes und prägte seine Weltsicht, «kein Held, aber doch einer, der zuverlässig den Alltag meistert und durch sein Vorbildsein erzieht und lehrt». Somit kann man Jesus – aus heutiger Sicht – ein gutes und stabiles Elternhaus attestieren, das ihm dabei geholfen hat, eine Persönlichkeit zu werden, die den Lauf der Welt verändern sollte.
Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachtstage.
Reto Stampfli