
Giampaolo Mastro auf Pixabay
Focus
Der Flüchtlingsjunge Jesus
von Hilde Regeniter
Frage: Warum fasziniert, warum rührt die Weihnachtsgeschichte tatsächlich so viele Menschen so sehr?
Thomas Söding: Weil es eine so einfache Geschichte ist, die eine so tiefe Bedeutung hat. Diese ganz einfache Geschichte lautet: Ein Kind wird geboren. Jeder, der Vater oder Mutter ist, kennt dieses überströmende Glücksgefühl, wenn ein neues Menschenkind das Licht der Welt erblickt. Was das Weihnachtsevangelium nun sagt, ist, dass das gleichzeitig eine Gottesgeschichte ist. In diesem Kind ist Gott selbst gegenwärtig. Und dass Gott nicht als mächtiger Krieger auf der Bildfläche der Weltpolitik erscheint, sondern dass er als kleines Kind das Licht der Welt erblickt, das allein ist eine Riesenbotschaft. Das ist einerseits eine Aufwertung von Kindern und gleichzeitig die Aufforderung, über Stärke und Schwäche neu nachzudenken.
Frage: Die Geschichte des Flüchtlingsjungen Jesus ist in einer Zeit, in der wir so viel und auch so drängend mit Geflüchteten und deren Integration zu tun haben, höchst aktuell. Auch der Ort des Geschehens steht immer wieder im Zentrum des Weltinteresses [...] – was hat das mit der Weihnachtbotschaft zu tun?
Thomas Söding: Die Weihnachtsgeschichte spielt von Anfang an in solch politisch aufgeregten Regionen. Sie hat auch durchaus immer ein insofern gefährliches Potenzial, als eine solche leidenschaftliche Geschichte eben halt auch starke Emotionen auf verschiedenen Seiten wecken muss. Aber in der Weihnachtsgeschichte wird auch immer deutlich: So wichtig einzelne Orte auch als Erinnerungsorte und als Gedenkorte sind, ist doch das Christentum eine Religion, die Grenzen überschreitet, die in der Lage ist, von einem bestimmten Ort an aufzubrechen und in diesem Aufbruch neue Entdeckungen zu machen. Und genau diese Aufbruchsgeschichten sind eigentlich die, in denen das christliche Herz schlägt. Und wenn man das christliche Herz schlagen lässt, dann würde man nicht bestimmte Orte so ideologisch hochziehen, wie das in Teilen der heutigen Politik der Fall ist.
Thomas Söding (*1956) ist ein deutscher katholischer Theologe, Professor für Neutestamentliche Exegese an der Ruhr-Universität Bochum und Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.