Aktuelle Nummer 25 | 2023
03. Dezember 2023 bis 16. Dezember 2023

Schwerpunkt

Diakonie «neu» denken

von Eva Wegmüller

«Unser Pastoralraum hat bereits eine aktive Diakonie mit Seniorenmittagstischen einmal pro Monat, Hausbesuchen und Krankensalbung.» Die Aussage zeigt, dass in der heutigen Zeit Diakonie noch viel zu oft eingrenzend gedacht wird. Das Wort «Diakonie» bedeutet jedoch Dienst – Dienst am Menschen oder Nächstenliebe, und die gilt für alle Menschen, unabhängig von Alter, Religion oder Konfession und auch unabhängig von kirchlichen Strukturen und theologischen Bereichen. Diakonie ist die soziale Arbeit in der Kirche und dieser Gedanke ist nicht neu, sondern ursprünglich. Die folgenden Zeilen ­wollen das Ursprüngliche neu denken und den Weg für eine neue diakonische Begeisterung ebnen. 

Diakonie als Wesensmerkmal der Nächstenliebe
Jesus stellt immer wieder die Nächstenliebe ins Zentrum seiner Botschaft: «Dies ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe.» (Joh 15,12). Es ist der Nächstenliebe nicht wichtig, ob jemand durch eigenes Verschulden, vielleicht durch einen «falschen» Weg in eine Notlage gekommen ist. Wahre Nächstenliebe kennt keine Diskrepanz zwischen Reden und Handeln. Man kann viel über Nächstenliebe reden, sie sogar anderen predigen, aber entscheidend ist nicht, wie viel wir darüber gesprochen haben, sondern ob wir sie praktizieren. Nächstenliebe tut nicht nur das Allernotwendigste für den Menschen in Not, sondern überlegt, wie ihm am besten geholfen werden kann. Sie beschränkt sich nicht auf eine Einmalaktion, sie bleibt am Ball und beobachtet, ob das, was sie getan hat, wirklich ausreicht. Nächstenliebe ist tätig werdende Liebe. 

Kurzer historischer Rückblick 
Im Mittelalter war es der christliche Auftrag der Nächstenliebe, welcher die Klöster. und Kirchen verpflichtet, Essen an Bettler und Fremde abzugeben, Kranke zu versorgen, Reisenden eine Unterkunft anzubieten. Armut war keine sozialökonomische Kategorie – sondern eine personenrechtliche. Arm war, wer schutzlos (physisch und materiell) und wer machtlos, wer dem Zugriff der Mächtigen ausgesetzt war. Bis in die Moderne war die Diakonie eines der grössten und kapitalintensivsten Tätigkeitsfelder der Kirche. Sie betrieb über Jahrhunderte Armen- und Waisenhäuser, Spitäler und später auch psychiatrische Kliniken. Im letzten Jahrhundert wurden diese Werke im Gesundheits- und Sozialwesen weitgehend vom Staat übernommen. Anfang des 20. Jahrhunderts haben sich christliche Gewerkschaften oder die Katholische Arbeitnehmerbewegung für Arbeitnehmende eingesetzt. Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit wurden oft von kirchlich engagierten Frauen gegründet und geprägt – z.B. das Sozialpädagogische Seminar des Seraphischen Liebeswerks (1933). 1918 wurde die «Sozial-caritative Frauenschule Luzern» als eine der ersten Bildungsstätten für ­Soziale Arbeit in der Schweiz eröffnet – ­gegründet durch den Schweizerischen Katholischen Frauenbund und das Lehrschwesterninstitut Menzingen. Heute ist diese Bildungsstätte als Hochschule Luzern, Soziale Arbeit, bekannt und beliebt. Christliche Nächstenliebe schliesst Professionalisierung nicht aus.

Die Entwicklung einer Theorie der Diakonie
Die Theorie der Sozialen Arbeit entstand hauptsächlich aus den diakonischen Gedanken, wie sie Thomas von Aquin (1224–1274) begründet hatte. Der damals umstrittene Magister der Theologie wurde in Europa als herausragender Gelehrter und Lehrer gefeiert und 1322 von der Kirche heiliggesprochen. Seine Auffassungen werden später weitgehend zur amtlichen Lehre der römisch-katholischen Kirche. Bedeutend für die heutige Soziale Arbeit und Diakonie sind der Gedanke der Subsidiarität, die Verpflichtung zur christlichen Liebestätigkeit (caritas), zur sozialen Gerechtigkeit und auch die Rechtfertigung von Privateigentum. Seine Grundsätze wurden im Verlaufe der Jahrhunderte von engagierten Frauen und Männern konkretisiert und weiterentwickelt. Exemplarisch sei der evangelische Theologe Johann Hinrich Wichtern (1808–1881) genannt, der 1833 in Hamburg eines der ersten Kinderheime gegründet und eine Bewegung angestossen hat, aus der das heutige «Diakonische Werk» in Deutschland hervorgegangen ist. Weiter hat Alice Salomon (1872–1948) die Soziale Arbeit in Deutschland wesentlich geprägt. Gegenstand ihres gesamten wissenschaftlichen und publizistischen Werks ist nebst der Frauenemanzipation die Wohlfahrtspflege in einer umfassenden Weise. 

Ein grosses Ganzes
Dass Diakonie ein Grundauftrag der Kirche ist, muss theologisch nicht weiter begründet werden, und dass die Soziale Arbeit aus der christlichen Werthaltung der Nächstenliebe erwachsen ist, zeigt uns die Geschichte deutlich. Umso erstaunlicher ist es, dass das heutige Verständnis von Diakonie in unserer Kirche doch ziemlich eingegrenzt wirkt. Die Frage, ob die Unterstützung für Menschen in Not nicht in erster Linie Aufgabe des Staates ist, scheint sich genauso blockierend auf die tätig werdende Liebe auszuwirken wie die Sorge um die finanziellen Ressourcen für den vom Bistum Basel verlangten Schwerpunkt Diakonie. Wie wäre es, wenn wir einfach wieder das Engagement, den Mut und die Selbstverständlichkeit, Menschen in Not zu helfen, von unseren Vorfahren wie Thomas von Aquin, Johann Hinrich Wichern, Alice Salomon und Co. leben könnten? Wenn wir auf die heutigen sozialen Brennpunkte in unserer Gesellschaft mit all den wertvollen, über Jahrhunderte erwachsenen wissenschaftlichen und empirischen Erfahrungen sensibilisiert eingehen würden? Und wenn wir Diakonie als Synonym für die Soziale Arbeit in der Kirche und als gemeinsames grosses Ganzes verstehen könnten – als Dienst am Menschen, in Nächstenliebe? Denn die tätig werdende Liebe braucht unsere Gesellschaft noch genau so stark wie früher. 

In einigen Pastoralräumen und Pfarreien wird Diakonie bereits mit wunderbaren Angeboten aktiv gelebt: Wegbegleitung, Palliative Care, Notschlafstelle, «Frässpäckli-­Abgabe», MeetingPoint oder Sprechtische, kirchliche Sozialberatung, Seniorenmittagstisch und Spielnachmittage usw. Und wenn wir nun sämtliche «Gartenzäune» abbauen, das Feld ganz öffnen und gemeinsam beackern und bepflanzen – so können wir ein grosses Potenzial an sozialen Angeboten und Projekten für Kinder, Jugendliche, Familien, Alleinstehende usw. erblühen lassen und dadurch unsere Kirche bereichern mit der Vielfalt und Verschiedenartigkeit von unterstützenden und/oder Unterstützung empfangenden Menschen – mit der Gemeinsamkeit der Nächstenliebe.

Ich wünsche mir für das neue Jahr ein spür- und sichtbares Miteinander und Füreinander in unserer Kirche. Ich wünsche mir, dass jede Arbeit, ob bezahlt oder nicht bezahlt und unabhängig vom Bildungsstatus, wertgeschätzt wird, dass die Strukturen Menschen unterstützen und nicht ausschliessen, dass man, bei aller Sorgfalt um die finanziellen Ressourcen, nicht blind wird für die Not unserer Mitmenschen, und dass wir wieder vermehrt mit dem Herzen sehen, hören und spüren – dass die Nächstenliebe uns verbindet – als grosses Ganzes – weit über die Kirchenmauern hinaus.   

Quelle: E. Engelke, S. Borrmann & Ch. Spatscheck, Theorien der Sozialen Arbeit, Freiburg i. Br. 2009
Portrait fur Website

Eva Wegmüller ist Leiterin der Fachstelle ­Diakonie und Soziale Arbeit, einer Fachstelle der römisch-katholischen Synode des ­Kantons Solothurn. Sie steht Kirchgemeinden, Pfarreien und Freiwilligen im Kanton ­Solothurn beratend zur Seite und engagiert sich bei der Umsetzung und strukturellen Verankerung des diakonischen Handelns. 
www.fadiso.ch