Aktuelle Nummer 20 | 2024
22. September 2024 bis 05. Oktober 2024

Editorial

Die Schleifung der Bastionen

Spricht man heute vom «grossen Konzil», darf man nicht nur die Jahre von 1962 bis 1965 betrachten. Zweifellos war dies der Höhepunkt: die stürmischen Ereignisse im Herbst 1962, die unzähligen Reden, die vielen Abstimmungen und die verabschiedeten Dokumente. Das Konzil hat in einer Weise Geschichte geschrieben, dass wir die Kirchengeschichte nicht selten in «vorkonziliar» und «nachkonziliar» unterscheiden. Vermutlich kann man damit in einer ersten Ansicht tatsächlich bestimmte Mentalitäten und Verhaltensweisen kennzeichnen. Aber diese Umrisse sind doch ziemlich holzschnittartig. Viele Ideen des Konzils sind schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts im Gärprozess gestanden. Darum können auch heute noch viele Impulse aus der Zeit vor Konzilsbeginn origineller und schöpferischer sein als manches, was sich nach Konzils­ende bis zum heutigen Tag so progressiv ausgibt. 

Das Zweite Vaticanum hat viele neue Initiativen, Bewegungen und Institutionen im kirchlichen Leben geschaffen. Die katholische Kirche hat ihr Antlitz, besonders für Aussenstehende, erheblich verändert. Für viele Gläubige sind Reformen Wirklichkeit geworden, für die sie ein Leben lang gekämpft haben. Effektiv hatten die meisten der «Mater ecclesia» eine solche Kraft der Erneuerung und Verjüngung überhaupt nicht zugetraut. Der heute etwas in Vergessenheit geratene Luzerner Theologe Hans Urs von Balthasar hat bereits 1952 – zehn Jahre vor dem Konzil – mit dem Titel seiner Schrift «Schleifung der Bastionen» ins Schwarze getroffen. Vieles, was schon lange im Untergrund rumorte und Antworten verlangte, schoss nun an das Tageslicht. Die «Schleifung der Bastionen» sowie auch das Konzil beförderten viele verdrängte Probleme an die Oberfläche. Was nun an Fragen und Problemen evident wurde, war jedoch auf keinen Fall eine momentane Erscheinung, sondern erwies sich nicht selten als ein Problem, das tief wurzelte und schon in der Zeit der Aufklärung nach Antworten verlangt hatte. So zum Beispiel das Ringen zwischen Vernunft und Glaube, Freiheit und Autorität oder die Frage nach der Religionsvielfalt. Mit oberflächlichem Gerede wird man diesen Fragen auch im Jahr 2024 nicht gerecht. Hier hilft nur ein sorgfältiges und pragmatisches Arbeiten, ein offener Diskurs, der stets auf die christliche Botschaft ausgerichtet ist und uns zu einem mutigen Voranschreiten bestärken kann. 

Mit freundlichen Grüssen

Reto Stampfli