Reto Stampfli | Chefredaktor
Editorial
Ein sinnvoller «Rückschritt»
Mittlerweile wird es nur noch von den rückständigsten Katholiken bezweifelt, dass die Frauen in der frühen Kirche eine vielfältige und aktive Rolle einnahmen. Sie wirkten als Gastgeberinnen, Missionarinnen, Diakoninnen, Lehrerinnen und Märtyrerinnen. Die noch junge Kirche hätte wohl kaum ohne das Wirken und die Unterstützung der Frauen in den nicht-christlichen Gesellschaften Fuss fassen können. In der Frühzeit des Christentums gab es keine Kirchengebäude; die wachsenden Gemeinden trafen sich in Privathäusern, oft bei wohlhabenden Gläubigen. Frauen, wie die auf der Titelseite abgebildete Tuchhändlerin Lydia aus Philippi (Apostelgeschichte 16,14) oder Phöbe in Kenchrä bei Korinth (Römerbrief 16,1–2), öffneten ihre Häuser und spielten damit eine wesentliche Rolle in der Mission und Verbreitung des Glaubens. In der frühen Kirche hatten Frauen häufig das Amt einer Diakonin inne, eine Position, die oft mit der Unterstützung und Pflege der Gemeinde sowie der Hilfe für Bedürftige verbunden war. Neben Phöbe ist auch die Diakonin Olympia bekannt, die im 4. Jahrhundert in Konstantinopel wirkte und eng mit Kirchenvätern wie Johannes Chrysostomus verbunden war.
Ab dem 4. Jahrhundert wurde der Einfluss der Frauen jedoch immer mehr eingeschränkt. Mit dem Aufstieg des Christentums als anerkannte Religion des Römischen Reiches wurden die Strukturen hierarchischer und patriarchalischer. Die Konzile und die Kirchenväter des 4. und 5. Jahrhunderts, wie zum Beispiel Augustinus und Tertullian, förderten eine Sichtweise, die Frauen zunehmend auf untergeordnete Positionen beschränkte. Texte der Kirchenväter weisen häufig darauf hin, dass Frauen die traditionellen Rollen von Ehefrau und Mutter einnehmen und sich aus den öffentlichen Ämtern der Kirche zurückziehen sollten. Zum Glück werden in der Theologie und Kirchengeschichte diese frühen Einflüsse von Frauen zunehmend anerkannt und erforscht, da sie zeigen, dass das frühe Christentum im Vergleich zu späteren Jahrhunderten ein flexibleres und inklusiveres Verständnis von Leitungsrollen hatte. Es mag irritierend klingen, aber in Bezug auf die Position und Funktion der Frauen in der katholischen Kirche wäre es tatsächlich ein grosser Fortschritt, wenn die Kirche in ihrer Lehre und Praxis ausnahmsweise einen «Rückschritt» vornehmen würde.
Mit freundlichen Grüssen
Reto Stampfli