Aktuelle Nummer 25 | 2024
01. Dezember 2024 bis 14. Dezember 2024

Schwerpunkt

Frauen prägten das Christentum

von Judith Rosen, kath.ch

Das Neue Testament kennt einige Unternehmerinnen. Sie unterstützten die christliche Mission nicht nur finanziell, denn sie waren auch Leiterinnen von Hausgemeinden, Lehrerinnen und Missionarinnen. Dank ihnen war das frühe Christentum so erfolgreich. 

Das Neue Testament hält Überraschungen bereit, die so manche hartnäckigen Urteile erschüttern. Zu ihnen gehört die Ansicht, Frauen hätten in der Jesusbewegung und in den ersten Christengemeinden nur eine marginale Rolle gespielt. In den Evangelien, in der Apostelgeschichte und in den Paulus-­Briefen treten bemerkenswerte Frauen auf, die als Unternehmerinnen und Geschäftsfrauen auf eigenen Füssen standen. 

Denkmal für Lydia
Das wohl bekannteste Beispiel ist die erste Christin Europas, die Purpurhändlerin Lydia. Über sie berichtet die Apostelgeschichte (16,11–40): Auf seiner zweiten Missionsreise trafen Paulus und sein Begleiter Silas im makedonischen Philippi ein. Wie üblich machte sich Paulus auf die Suche nach der Synagoge, um dort am Sabbat das Wort Gottes zu verkünden. An einer Gebetsstätte ausserhalb der Stadtmauer begegnete er einer Frauengruppe, unter die sich Lydia gemischt hatte. Diese sympathisierten mit der jüdischen Religion, waren aber noch nicht konvertiert. Gerade unter ihnen fanden christliche Missionare und Missionarinnen Gehör. Die Apostelgeschichte setzt Lydia ein literarisches Denkmal: «Eine Frau namens Lydia, eine Purpurhändlerin aus Thyateira, hörte zu; sie war eine Gottesfürchtige und der Herr öffnete ihr das Herz, sodass sie den Worten des Paulus aufmerksam lauschte. Als sie und alle, die zu ihrem Haus gehörten, getauft waren, bat sie: Wenn ihr wirklich meint, dass ich zum Glauben an den Herrn gefunden habe, kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie drängte uns.»

Ehemalige Sklavin?
Der Name Lydia deutet an, dass die Purpurhändlerin eine ehemalige Sklavin war. Denn Sklaven wurden gerne nach ihrer Herkunft benannt, in dem Fall Lydien, einer Landschaft in Kleinasien, der heutigen Türkei. Die Handelsstadt Thyateira war bekannt für ihre Textil- und Purpurverarbeitung. Wahrscheinlich hat Lydia das Purpurhandwerk von ihrem Herrn gelernt. Sklaven hatten die Möglichkeit, sich mit Erlaubnis ihrer Besitzer ein Sondervermögen zu erwirtschaften, um sich freizukaufen und eine eigene Existenz aufzubauen. Freilassungen waren üblicher, als man denkt. Da ein Freigelassener zur Loyalität seinem Herrn gegenüber und weiter zu dem einen oder anderen Dienst verpflichtet war, profitierte auch der Patron von dessen Freilassung. Ob das im Einzelnen auch für Lydia galt, wissen wir nicht. Wir begegnen allerdings einer wohlhabenden und eigenständigen Unternehmerin. Lydia konnte es sich erlauben, spontan Paulus, Silas und vermutlich weitere Begleiter für längere Zeit in ihrem Haus zu beherbergen und zu beköstigen. Der Satz «Und sie drängte uns» lässt tief blicken. Die Missionare waren es gewohnt, in fremden Häusern Unterkunft zu finden. Sie folgten Jesu Vorbild, der seine Jünger in der Regel zu zweit in die Häuser ausgesandt hatte (Lk 9,4.f.). Musste sich Paulus von Lydia drängen lassen, weil er aus Schicklichkeitsgründen zögerte, im Anwesen einer alleinstehenden Frau einzukehren? 

Durchsetzungsstarke Unternehmerin 
Es war der Apostelgeschichte jedenfalls wichtig, zu betonen, dass die Initiative von Lydia ausging. Eine schlichte Einladung hätte ausgereicht, aber Lydia musste Paulus regelrecht überreden: «Wenn ihr wirklich meint, dass ich zum Glauben an den Herrn gefunden habe, kommt in mein Haus und bleibt da» (16,15). So wird die Annahme der Gastfreundschaft zu einem öffentlichen Zeichen für die Wahrhaftigkeit der Konversion, und Paulus ist ihr Garant.

Brauchte die Geschäftsfrau, die zwar mittlerweile ein anerkanntes Mitglied der Stadtgesellschaft war, aber ihre Vergangenheit als Sklavin nicht ungeschehen machen konnte, die Autorität des Apostels, um selbst erfolgreich den Glauben weitertragen zu können? Dass sie «drängte», zeichnete auch die durchsetzungsstarke Unternehmerin aus. Eine solche Persönlichkeit brauchte es, um eine Gemeinde in Philippi aufzubauen, deren Keimzelle das Haus der Patronin Lydia war.

Patronin einer Hausgemeinde
Wegen angeblicher Unruhestiftung lernte Paulus das Gefängnis von Philippi kennen. Nachdem er und Silas auf wundersame Weise freigekommen waren, suchten sie Lydia auf. In ihrem Haus hatte sich inzwischen eine Gemeinschaft gebildet, der niemand anderer vorstehen konnte als die Patrona selbst. Als Paulus den Brüdern und Schwestern Mut zugesprochen hatte, zog er weiter. Wie es Lydia und ihrer Hauskirche ergangen ist, lässt die Apostelgeschichte offen. Doch darf eine Frage gestellt werden: Wer hat nach dem Aufbruch der Missionare die Gebete, das Brechen des Brotes und die Danksagung geleitet, bis sich eine Grossgemeinde in Philippi gebildet hat? Ein christlicher Sklave, weil er wie Jesus ein Mann war oder die Patronin, obwohl sie eine Frau war? Lydias Bekehrung zum Christentum war ein beeindruckender Coup, der Wellen geschlagen und sicher zu weiteren Konversionen geführt hat. Dass eine erfolgreiche Geschäftsfrau zum Christentum konvertierte, entkräftete auch manches Vorurteil über die neue Religion: Deren Anhänger seien Dummköpfe aus der Gosse sowie leichtgläubige Frauen. 

Schneiderin Tabita
Eine Weitere im Bund der neutestamentlichen Unternehmerinnen ist Tabita, deren Name «Gazelle» bedeutet. Sie lebte in Joppe, dem heutigen Jaffa. Die Apostelgeschichte bezeichnet sie singulär als «Jüngerin», ein Hinweis, dass sie zu den Frauen gehört hat, die Jesu öffentliches Wirken begleitet haben. Ihre Vergangenheit erklärt auch die Reaktion des Petrus, der sich im benachbarten Lydda aufhielt. Als er von ihrem Tod hörte, eilte er sofort in ihr Haus, schickte nach Jesu Vorbild die Trauernden aus dem Obergemach, sprach «Tabita, steh auf» und erweckte sie wieder zum Leben. Ausdrücklich wird betont, dass die Wundertat viele Konversionen nach sich zog (9,36–42).

War Tabita Diakonin?
Die Apostelgeschichte beschreibt Tabita eingangs als eine Frau, die «viele gute Taten tat» und «reichlich Almosen» gab. Wer so spendenfreudig ist, muss über Geldmittel verfügen. Die Reaktion der Witwen, die um Tabita trauern, gibt Aufschluss: Die trauernden Frauen zeigten Petrus die Röcke und Mäntel, die «Gazelle» geschneidert hatte. Tabita gehörte wohl dem sich bildenden Stand der Gemeindewitwen an. Im Gegensatz zu vielen armen Witwen hatte sie es durch ihre Schneiderei zu Wohlstand, Ansehen und Unabhängigkeit gebracht. Sie besass ein grös­seres Haus mit einem Obergemach und konnte als Patronin Glaubensschwestern unter die Arme greifen. Wahrscheinlich hat sie auch einige von ihnen beschäftigt. Ob sie wie Phoebe auch eine Diakonin war, wie öfter vermutet wird, bleibt Spekulation.

Lydia und Tabita verkörpern jede auf ihre Weise gelungenes Christentum. Sie setzten missionarische Impulse, indem sie in ihrem Alltag für die Frohe Botschaft erfolgreich warben. Die beiden Frauen sind nicht auf eine Rolle festzulegen: Sie waren Patroninnen, Leiterinnen von Hausgemeinden, Gastgeberinnen Lehrerinnen, Missionarinnen und nicht zuletzt christliche Unternehmerinnen.