Reto Stampfli | Chefredaktor
Editorial
Die Macht der Kinder
Weihnachten ist für viele Menschen jene Zeit des Jahres, in der sie unvermittelt von wohltuenden Erinnerungen an vergangene Zeiten eingeholt werden. Während die Kinder in der Weihnachtszeit aus dem Vollen schöpfen, schwelgen Erwachsene nicht selten im Andenken an ihre eigene behütete Kindheit. Eindrücklich zeigt sich dieser Umstand bei den Weihnachtsgeschichten von Charles Dickens, welche von Erwachsenen ebenso verschlungen werden wie von Kindern. Dickens’ Weihnachtserzählungen können in literarischer Form oder als Film die wunderbare Wirkung eines Flaschengeistes haben. So verfällt der üble Geizkragen Ebenezor Scrooge alle Jahre wieder der gemeinsamen Abneigung von Tausenden, wenn nicht gar von Millionen, bis er durch den Geist des verstorbenen Geschäftspartners Marley geläutert wird.
Bei der Lektüre jener Weihnachtserzählungen könnte schnell einmal der Eindruck aufkommen, der englische Autor sei ein romantischer Märchenonkel gewesen. Doch hinter den rührigen Aufzeichnungen und ebenso melancholisch wie herzzerreissenden Geschichten steckt die unverhohlene Kritik an sozialen Ungerechtigkeiten und zwischenmenschlicher Kälte seiner Zeit. Nicht zufällig sind die Helden in Dickens’ Geschichten meistens Kinder. Dickens war sich stets bewusst, dass Kinder ein riesiges Potenzial an Gutem mit sich herumtragen, welches von Erwachsenen gefördert oder vernichtet werden kann. Ähnlich wie in der biblischen Weihnachtsgeschichte, sind Dickens’ literarische Kinder mit einer speziellen Macht ausgestattet. Wenn auch Dickens vermutlich kein allzu eifriger Bibelleser war, so führte er trotzdem das heilige Buch der Christen als wichtige Inspirationsquelle an. Das Wunder von Weihnachten spielt für ihn eine fundamentale Rolle: Ein neugeborenes Kind liegt in der Krippe, als Angebot Gottes, einen neuen Anfang mit den Menschen zu wagen. In seiner Erscheinung schwach und ausgeliefert, wird dieses Kind die Welt verändern. So erstaunlich diese Begebenheit auch ist, sie kommt nur zum Tragen, wenn der hörende und sehende Mensch sich verändern lässt. Denn in uns allen steckt ein kleiner Ebenezor Scrooge, welcher ab und zu von guten Geistern wachgerüttelt werden muss.
Mit weihnächtlichen Grüssen
Reto Stampfli