Schwerpunkt

Es begab sich aber zu der Zeit

von Reto Stampfli

Die biblische Weihnachtsgeschichte berührt seit Jahrhunderten die Menschen und regt ihre Fantasie an. Das bescheidene Geschehen in Bethlehem hat wie kaum etwas anderes das kulturelle und literarische Wirken angeregt. Ein Blick in die Fülle der Weihnachtsgeschichten. 

Das Weihnachtsfest und das damit verbundene Brauchtum hat sich in den vergangenen Jahrhunderten stark verändert. Viele Aspekte sind verlorengegangen, Neues ist dazugekommen. Relativ «unbeschadet» hat die Weihnachtsgeschichte all die Jahre überstanden, denn sie trägt den Kern des christlichen Glaubens in sich und erzählt von der Menschwerdung Gottes und der Hoffnung auf Erlösung. Sie zeigt, dass etwas Grosses aus bescheidenen Anfängen entstehen kann, was viele Leserinnen und Leser berührt. Diese Motive von Gemeinschaft und Fürsorge sprechen auch Menschen an, die nicht religiös sind. Die Weihnachtsgeschichte ist bis heute ein fester Bestandteil der westlichen Kultur, da sie offen für unterschiedliche Interpretationen und Darstellungen ist. Sie wurde in Theaterstücken, Filmen, Büchern und Liedern immer wieder kreativ neu interpretiert, was ihrer Relevanz und Attraktivität nie geschadet hat. Die Weihnachtsgeschichte bleibt populär, weil sie sowohl eine religiöse Bedeutung hat als auch universelle menschliche Werte vermittelt.  

Die Bibel als Quelle
Das Neue Testament bietet – verglichen mit dem Umfang der österlichen Botschaft – nur wenige direkte Hinweise auf Weihnachten. Dennoch gibt es mehrere Texte, die die Geburt Jesu beschreiben oder ihre Bedeutung thematisieren. Die Geburtsgeschichte Jesu steht ganz klar im Mittelpunkt der biblischen Überlieferung und ist in zwei Evangelien zu finden: In der bekanntesten und beliebtesten Version im Lukasevangelium (Lk 1–2) beginnt die Erzählung mit der Ankündigung durch den Engel Gabriel, gefolgt von der Geburt Jesu, umrahmt durch die Erwähnung der Volkszählung, den Stall in Bethlehem als Schauplatz, die Hirten als Zeugen und die Botschaft der Engel. Die zweite Variante begegnet uns im Matthäusevangelium (Mt 1–2), wo die Ankündigung an Josef, die Weisen aus dem Morgenland und die Flucht nach Ägypten den dramaturgischen Plot bilden. Aber auch ausserhalb der klassischen Geschichten finden sich im Neuen Testament indirekte Hinweise auf die Bedeutung der Geburt Jesu: Zum Beispiel im Prolog des Johannesevangeliums: «Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt» (Joh 1,14) oder in den Paulusbriefen: «Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt» (Gal 4,4).

Die Kraft des Erzählens
Lukas verankert seine Version der Weihnachtsgeschichte in der Geschichte der Welt, indem er sie mit einem historischen Ereignis verbindet: der Volkszählung unter Kaiser Augustus und der Statthalterschaft von Quirinius in Syrien. Dies verleiht der Erzählung Authentizität und betont, dass die Geburt Jesu in einer realen, geschichtlichen Zeit stattfand. Lukas stellt den Kontrast zwischen der göttlichen Grösse Jesu und den einfachen, oft harten Lebensumständen der Menschen in Palästina dar. Er betont in seinem gesamten Evangelium die Rolle der Armen, der Frauen und der Aussenseiter im Reich Gottes. Diese Themen werden in der Weihnachtsgeschichte durch die Hirten, Maria und die schlichte Geburt unterstrichen. Verständliche und eingängige Geschichten haben den markanten Vorteil, dass sie die menschliche Erfahrung direkt ansprechen. Es sind Narrative, die oft eine emotionale Verbindung ermöglichen, die reines Faktenwissen oder logische Argumentationen nicht erreichen können. So können Geschichten kulturelle und soziale Werte vermitteln und eine gemeinsame Basis für den Dialog schaffen. Die narrative Form ist ein mächtiges und oft unterschätztes Werkzeug, um Informationen zu kommunizieren, Emotionen zu wecken, Verständnis zu fördern und andere zu überzeugen. 

Weihnachtsgeschichten
Es gibt eine Vielzahl bekannter Weihnachtsgeschichten. Erlauben Sie mir im Folgenden einen subjektiv geprägten Blick in die weihnächtliche Literatur: Eine eindrückliche Erzählung finden wir zum Beispiel in Thomas Manns Familien-Epos «Buddenbrooks», in dem in einem Kapitel des umfangreichen Romans die Feier einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie aus Lübeck im 19. Jahrhundert beschrieben wird. Ein wahrer Klassiker ist die Kurzgeschichte des amerikanischen Autors O. Henry (eigentlich William Sydney Porter), die erstmals 1905 als Sonntagsbeilage der damals grössten Zeitung der USA erschienen ist. In «Das Geschenk der Weisen» geht es um ein junges Ehepaar mit wenig Geld, das sich gegenseitig mit einem Weihnachtsgeschenk überrascht. Eine spirituelle und poetische Perspektive nimmt die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf in «Die heilige Nacht» ein: Ein armer Mann zieht hinaus in die Kälte, um Glut für ein Feuer zu finden. Es soll seine Frau und sein neugeborenes Kind wärmen. Der Mann trifft auf einen kaltherzigen Schafhirten, der ihm zuerst nicht helfen will; doch als der Hirte erkennen muss, wie weder seine Hunde noch die heisse Glut des Feuers dem armen Mann etwas anhaben können, beschliesst er, ihm zu folgen und erlebt so das Weihnachtswunder. Vielen Leserinnen und Lesern ist bestimmt «Das fliegende Klassenzimmer» von Erich Kästner in guter Erinnerung. Eine weihnachtliche Geschichte, die Freundschaft und Zusammenhalt unter Schülern feiert. Eine satirische Kurzgeschichte, die die Weihnachtsbotschaft in einem neuen Licht darstellt, ist Heinrich Bölls «Es begab sich aber zu der Zeit ...». Der deutsche Literatur-Nobelpreisträger verweist auf das Unruhige des Herzens, das Gefühl, dass wir hier auf Erden eigentlich nie zu Hause sind. In einem Interview ergänzte er: «Ich glaube an Gott, weil es den Menschen gibt. Und weil die Menschen Gott durch den Menschgewordenen auch in sich haben.» Dieses adventlich gestimmte Wort kann durchaus als spirituelles Vermächtnis verstanden werden, als Ratschlag, wach zu bleiben. Eine schlichte und berührende Nacherzählung der Weihnachtsgeschichte aus der Perspektive eines Kindes bringt «Weihnachten im Stall» von Astrid Lind­gren. «Der Tannenbaum» von Hans Christian Andersen ist ein melancholischer Bericht über einen Tannenbaum, der seinen Lebenszyklus durchlebt.  

Lustiges und Skurriles 
Es gibt viele moderne Weihnachtsgeschichten, die sich mit zeitgenössischen Themen auseinandersetzen und dennoch den Geist von Weihnachten bewahren. Für Kinder und Familien eignet sich «Morgen, Findus, wird’s was geben» von Sven Nordqvist. Eine Geschichte über den liebenswerten Kater Findus und Pettersson, die zusammen Weihnachten feiern. Eine wunderschön illus­trierte Geschichte über Freundschaft, Zusammenhalt und die kleinen Wunder der Weihnachtszeit bietet «Die kleine Hummel Bommel feiert Weihnachten» von Britta Sabbag und Maite Kelly. Romantisch wird’s im «Weihnachtscafé in Manhattan» von Katherine Garbera, eine romantische Erzählung über das Wiederentdecken von Liebe und Familie in der magischen Atmosphäre New Yorks während der Weihnachtszeit. «Das Geschenk» von Cecelia Ahern ist eine moderne Weihnachtsgeschichte über einen Mann, der lernt, was im Leben wirklich zählt. Den jungen Nikolaus im Fokus hat Matt Haig in seinem humorvollen Abenteuer «Ein Junge namens Weihnacht». Tierisch wird’s bei Andreas Steinhöfel, der in «Es ist ein Elch entsprungen» eine skurrile Geschichte über einen echten Weihnachtselch, der in einer Familie für Chaos sorgt, erzählt. Alle diese Geschichten eignen sich wunderbar, um in der Adventszeit gelesen oder vorgelesen zu werden.  

Unter redaktion@kirchenblatt.ch kann ein Dokument mit weihnachtlichen Kurz­geschichten, Gedichten und Literaturhinweisen bezogen werden.