Editorial

Wert-los

Vor achtzig Jahren wurde im KZ Flossenbürg der protestantische Theologe Dietrich Bonhoeffer hingerichtet – nur wenige Wochen vor Kriegsende. Er war eine herausragende Figur des 20. Jahrhunderts: Theologe, Widerstandskämpfer und Märtyrer. Was mich bis heute an seinem Wirken beeindruckt, ist die aussergewöhnliche Verbindung von tiefgründiger Theologie, praktischer Ethik und mutigem politischem Handeln. Er war ein brillanter Denker (mit gewissen kontroversen Positionen), der jedoch komplexe theologische Konzepte auf den Punkt bringen konnte. Seine stellenweise radikale Interpretation dessen, was es heisst, Jesus wirklich nachzufolgen, hat mich als Theologiestudent irritiert und nachhaltig beschäftigt. Während die meisten Christen damals stillschweigend zusahen, was das Nazi-Regime anrichtete, schloss sich Bonhoeffer dem Widerstand gegen Hitler an, denn für Bonhoeffer war Christsein keine Theorie. Er lebte, was er predigte. Er stand voll und ganz für die christlichen Werte ein und das bis zum Äussersten, seinem brutalen Tod am Galgen.

In der heutigen Zeit scheinen diese Überzeugungen und Grundwerte vielerorts ausgedient zu haben. Der Wert von ethischen Werten wird momentan heiss diskutiert. Im schwierigen Umgang mit Mächtigen und ihren Beratern empfehlen einflussreiche Experten die Beachtung sämtlicher ethischen Werte dem reinen «Deal» unterzuordnen. Wer sich also heute noch an irgendwelchen Werten orientiert, der wird bei jedem Geschäft bestimmt Zweiter machen. Nur die Naiven glauben noch an «Chimären» wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ethische Prinzipien als Basis eines friedlichen und stabilen internationalen Zusammenlebens. Bonhoeffer hätte zu diesen «Naiven» gehört, und mit ihm gehören eigentlich auch wir als Christinnen und Christen zu diesen «Gestrigen». Die humanistischen Werte scheinen also eindeutig an Wert zu verlieren. Eine einstmals hochgeschätzte Wertvorstellung wird in diesen Tagen besonders hart geprügelt: die Empathie. Genau das, was im Christentum als Nächstenliebe bekannt ist. Mit Empathie kann man nichts gewinnen, wie es scheint, das ist etwas für die Schwachen, das behauptete bereits vor mehr als 100 Jahren auch der Philosoph Friedrich Nietzsche. Bonhoeffer hätte dazu eine ganz andere Meinung vertreten. Was denken Sie darüber, geschätzte Leserinnen und Leser?

Mit empathischen Grüssen 
Reto Stampfli