
Porträt von Papst Leo XIII. Visitenkarte. Foto von Ernest Charles Appert. Albumindruck. 1860–1890. Paris, Carnavalet-Museum.
Schwerpunkt
Der befleckte Pontifex
von Reto Stampfli
Wer sich als gesegnet erachtet, der nennt sich Benedikt; wer sich unschuldig fühlt: Innozenz; wer als Wohltäter in die Geschichte eingehen möchte: Bonifaz; und wer für seine Milde bekannt ist: Clemens. Einen passenden Papstnamen zu finden, das scheint jedoch gar nicht so einfach zu sein. Zum Glück kommen nur die wenigsten Menschen in ihrem Leben in diese aussergewöhnliche Situation. Frauen haben sich diesbezüglich überhaupt keine Sorgen zu machen, und auch Nichtkatholiken sind aus dem Spiel.
Gioacchino Vincenzo Pecci, ein erfahrener und zurückhaltender Vatikan-Diplomat, wurde an einem ausnehmend kühlen Februartag im Jahr 1878, kurz nach dem mittäglichen Zwölfuhrschlag von St. Peter, mit der anspruchsvollen Aufgabe konfrontiert, der altherkömmlichen Namensgebung gerecht zu werden. Dieser klerikale Ehrentitel sollte einerseits eine Art Devise für sein anstehendes Wirken als Kirchenführer darstellen, andererseits seine Präferenzen in der Ahnenreihe aufzeigen. Es wird berichtet, dass der feingliedrige Greis mit der imposanten Adlernase, nachdem er bereits im dritten Wahlgang überraschend die Mehrheit der Stimmen der Kardinäle erhalten hatte, abrupt in Tränen ausgebrochen sei und am ganzen Leib gezittert habe. Eines war dem unerwartet Gewählten jedoch sofort klar: Den Namen seines Vorgängers durfte er auf keinen Fall annehmen. Nannte er sich ebenfalls Pius, dann würden sich dadurch die Konservativen bestärkt fühlen, bei den Liberalen in der Kurie wäre er jedoch sofort weg vom Fenster. Auch der Name seines Vorvorgängers, Gregor, war eine denkbar schlechte Hypothek. So erinnerte er sich in dieser entscheidungsschwangeren Stunde an seinen einzigen wahren Förderer in Rom, der ihm als einfachem Bürgersohn das Studium an der Accademia dei Nobili ermöglicht hatte, und nannte sich fortan Leo – Nummer dreizehn in dieser stolzen Namensreihe. Genau dieser Name wurde Minuten später vom Balkon verkündet; zwar nicht in das weite Rund des Petersplatzes hinaus – denn mit dem vereinten Italien, das sich 1870 den ehemaligen Kirchenstaat gewaltsam einverleibt hatte, stand der Vatikan noch immer auf Kriegsfuss –, jedoch von der kleineren Benediktionsloggia aus ins Innere der Peterskirche hinein.
Gioacchino Peccis Vorgänger, der berühmte Pius IX., hatte über drei Jahrzehnte auf dem Papstthron ausgeharrt und war dabei geistig immer enger, körperlich hingegen massiv breiter geworden. Da wirkte der zarte Leo – in seinem Auftreten alles andere als ein Löwe – im Vergleich dazu wie ein engelsgleiches Wesen. Auch akustisch gab es gewaltige Unterschiede: Hatte Pius als letzter «Papstkönig» noch mit donnernder Stimme in seinen gefürchteten Wutanfällen alles Moderne vermaledeit und die italienische Regierung samt König zu einem «Sack voller Vipern» degradiert, wirkte im Vergleich dazu Leos gehauchte Gelehrtenstimme wie der unsichere Gesangsvortrag eines vorpubertären Sängerknaben. Leo war auch erstaunlich aufgeschlossen und interessierte sich für die aufkommenden Errungenschaften der Technik. Dem Fotoapparat widmete er sogar ein enthusiastisches Gedicht. Ungewollt avancierte er zu einem der ersten Filmstars der Geschichte: Zittrige Schwarzweissaufnahmen aus der Jahrhundertwende, die tief im vatikanischen Filmarchiv ruhen, zeigen einen zerbrechlich wirkenden Hohepriester, der unaufhörlich, ja fast schon maschinell, imaginäre Massen von Gläubigen mit Segnungsgesten einzudecken scheint.
Doch Papst Leo war nichtsdestotrotz eine Respekt erheischende Erscheinung. Die Audienzen an seiner Statt waren ein unvergessliches Schauspiel an katholischer Prachtentfaltung. Sein Hofstaat glänzte wie ein mittelalterliches Kreuzfahrerheer, aufgereiht zum ruhmreichen Kampfe gegen jegliche Art von Falschgläubigkeit. Er selbst liess Huldigungen und Bittgesuche aus sicherer Entfernung auf sich einwirken, denn Päpste waren in jener Zeit noch «Unberührbare» und wurden keinesfalls, wie heute üblich, dem Volk zur Schau gestellt. Ein Papst blieb auf Distanz, schüttelte kaum Hände und küsste erst recht keine Kleinkinder auf die Stirn. Der Pontifex schwebte hocherhoben über die staunenden Gläubigen hinweg. Leo XIII. schien nicht von dieser Welt zu sein; alles irdisch Schwere hatte er abgelegt. Doch – ob man es glauben will oder nicht – auch Päpste zeigen manchmal Schwächen. So verehrte der gebildete Kirchenmann die Dichter der vorchristlichen Jahrhunderte über alles. Die Sprache Ciceros und Vergils war seine eigentliche Muttersprache. Auf seinem mächtigen Pult hielt er stets eine voluminöse Bibelausgabe bereit, um im Notfall rasch ein Büchlein eines heidnischen Autors zu kaschieren, falls er es beim Eintreten eines Gastes nicht mehr rechtzeitig in die Schublade hatte verschwinden lassen können.
Von einem ganz anderen Faible wussten jedoch nur seine allerengsten Bediensteten – und natürlich die auserwählten Klosterfrauen, die seinen Haushalt besorgen und seine Wäsche ins Reine bringen durften. Es war das bestgehütete Geheimnis im Vatikan. Der Diener der Diener Gottes, der altehrwürdige Bischof von Rom, der oberste Brückenbauer, der alleinige Hirte der Universalkirche – ja, auch er hatte eine nur allzu menschliche Schwäche: Es war, nom d’une pipe, doch tatsächlich der alte Verführer des Menschengeschlechts, der tabacum maleficium, der es Papst Leo angetan hatte. Nicht etwa, dass er Zigarren geschmaucht hätte, wie es viele Kirchenfürsten in der heutigen Zeit praktizieren; nein, frei nach dem Motto «Kautabak ist der Körper des Tabaks, Rauchtabak der Geist, Schnupftabak die Seele» war er mit Leib und Seele dem Genuss des Schnupftabaks verfallen. Doch noch nicht genug – was daran das Allerunerhörteste war: Er bevorzugte ein englisches Präparat aus dem renommierten Hause Fribourg & Treyer, einem seit dem 18. Jahrhundert in London ansässigen Tabakgeschäft. Es wäre wohl ein Skandal sondergleichen daraus entstanden, wenn die gestrengen Kurialen oder gar extern die Königlichen in der neu ernannten Kapitale Italiens davon die Nasen oder die Ohren vollbekommen hätten. Man kann es zwar heute kaum glauben, doch in jener Zeit herrschte erstaunlicherweise in privaten Belangen völlige Diskretion in den verwinkelten Gängen des Vatikans. Doch Leo, der gebildete Genussmensch, konnte seinen geliebten Schnupftabak nur heimlich über einen Gewährsmann in London beziehen, der bis an sein Lebensende nicht erfahren sollte, wen er eigentlich genau beliefert hatte. Schnupftabak war zwar im 19. Jahrhundert durchaus salonfähig, für den Oberhirten der katholischen Kirche gehörte es sich jedoch in keiner Art und Weise, seine markante Nase mit zerstampftem und aromatisiertem Kraut aus dem Reich des unsäglichen Heinrich VIII. vollzustopfen. Man schnupfte zwar ungeniert an den grossen Höfen Europas, und die Sitte, bei Begegnungen Tabak zu offerieren, gehörte weitherum zum guten Ton, doch im Vatikan herrschten diesbezüglich andere Sitten. Es war der Franziskanerpater André Thevet gewesen, welcher den Tabak nach Europa gebracht hatte, und Papst Benedikt XIV. hatte bereits 1744 im Trastevere die erste päpstliche Tabakfabrik eröffnet, doch für den Heiligen Vater war das braune Pulver tabu.
Der Pontifex befleckte sich regelmässig. Vor allem in den letzten Jahren seines Pontifikats soll das geschwächte Kirchenoberhaupt immer öfter ungewollt mit einer braun verzierten Nase aufgetreten sein. Einmal wurde er sogar während eines Staatsbesuchs von einer derart grässlichen Niesattacke befallen, dass man um sein Leben fürchten musste. Auch sein sonst so reines Papstgewand zeigte immer häufiger Spuren von zittrigen Prisen. Die um seinen Ruf besorgten Verantwortlichen in der Anticamera wünschten sich nicht selten, der Papst hätte doch besser eine rohe braune Kapuzinerkutte getragen anstatt einer nicht mehr ganz weissen Soutane.