Editorial

Mit dem Mute eines Löwen

Papst Leo XIII. (1878–1903) brüllte nie wie ein Löwe, stellte jedoch in seiner mutig-bedachten Art eine Schlüsselfigur beim Übergang der katholischen Kirche in die Moderne dar – konservativ im Glauben, aber offen für Dialog und soziale Reform. Seine Enzyklika «Rerum Novarum» (1891) machte ihn zum «Vater der katholischen Soziallehre», und seine Philosophieoffensive trug entscheidend zur geistigen Erneuerung der Kirche bei. 

Ich bin Vincenzo Gioacchino Pecci, wie Leo bürgerlich hiess, zum ersten Mal im Frühling 2004 im Archiv der Schweizergarde begegnet. Bei Recherchen zum Jubiläumsbuch der Schweizergarde bin ich dort den Päpsten auf eine ganz besondere Weise nähergekommen. In den Funktionsbüchern der Garde waren Notizen zu finden, die einen aussergewöhnlichen Einblick in den Alltag am päpstlichen Hof gewährten. Unter anderem las ich von einem «grässlichen Malheur», das sich im März 1899 im Apostolischen Palast ereignet hatte: Der greise Leo XIII. war auf den frisch gebohnerten Böden der Antikammer ausgerutscht und direkt vor die Füsse seiner Leibwachen gefallen. Die wollten dem gefallenen Oberhirten sofort wieder auf die Beine helfen, doch sie trauten sich lange Zeit nicht, den «Stellvertreter Jesu Christi» direkt anzufassen. 

Was nicht in den Gardebüchern steht: Theologisch war Leo XIII. äusserst standhaft und konservativ. Gegenüber Wissenschaft und Philosophie verhielt er sich jedoch offener als seine Vorgänger. So sprach er sich für die Pflicht des Staates zur sozialen Gerechtigkeit und die Bildung von Arbeitervereinigungen aus – ein Meilenstein in der kirchlichen Haltung zur Arbeiterbewegung und zum Kapitalismus. Dies war ein Versuch, die Kirche intellektuell gegenüber dem Säkularismus und Rationalismus zu wappnen. Eine ernste Herausforderung, die auch für Leo XIV. hochaktuell ist. Nun stellt sich die Frage, ob seine Namenswahl eher als Zeichen an die Konservativen in den USA zu deuten ist oder als Hommage an seinen Vorgänger Franziskus? Denn Bruder Leo war einer der engsten Vertrauten und Mitarbeiter des heiligen Franz von Assisi. In seiner ersten Rede vor den versammelten Kardinälen sprach der Neugewählte von «einem mutigen und vertrauensvollen Dialog mit der heutigen Welt und ihren verschiedenen Komponenten und Realitäten» – eine Herausforderung, die Überzeugung, Weitsicht und Ausdauer fordert.

Mit zuversichtlichen Grüssen 

Reto Stampfli