Der Weg zum geschenkten Ziel

28. Sonntag im Jahreskreis – 15. Oktober 2017.    Bibeltexte: Jes 25, 6-10a; Phil 4,12-14.19-20; Mt 22,1-14

Letzthin bei einer Hochzeit: Ich habe gestaunt, welche Kleidervielfalt unter den Gästen herrschte. Da war die junge Frau im langen Abendkleid – und neben ihr ein Herr mittleren Alters in Hosen, die mehr auf Alltag als Hochzeit schliessen liessen. Jedes Kleid drückte die Einzigartigkeit der Person aus. Wir respektieren das, gilt man doch sonst schnell einmal als wenig aufgeschlossen.

Das Gleichnis aus dem Matthäus-Evangelium nimmt das Hochzeitsbild auf. Doch das Ende erschreckt! Keine Spur von Wertschätzung der Individualität, der besonderen Umstände für diesen einen Gast in den Alltagskleidern. Woher kommt das?

Da ist einmal der geschichtliche Hintergrund: Anders als heute stellten zur Zeit der Entstehung dieser Bibeltexte bei Hochzeiten die Hochzeitsleute den Gästen die Kleider zur Verfügung. Nicht zuletzt sollten so die sozialen Unterschiede ausgeglichen werden. Im Zentrum der Hochzeit steht eben das Paar und nicht der Gast mit der schönsten Kleidung. Wer also diese angebotenen Kleider nicht annimmt, verstösst offen gegen die geltende Gewohnheit. Dass der Gast die Frage nach dem Grund seiner Kleidung, die ihm der König stellt, nicht beantwortet, kann Unvermögen sein, doch das Schweigen drückt eher Gleichgültigkeit aus. Die Arbeitskleidung könnte aber auch darauf hinweisen, dass er mit einem Bein in der Arbeit steckt und sich jederzeit vom Fest verabschieden könnte – so nach dem Motto: "Ich schau mal, ob es mich hier anspricht, aber so wirklich lass ich mich hier nicht auf die Situation ein."

Bringen wir den Text des Evangeliums mit jenen der Lesungen zusammen, dann sagen uns diese Texte: Der Himmel, das grosse Glück – und somit das Ziel unseres Lebens, sind uns geschenkt. Wir sind eingeladen – von der Strasse weg, aus der Mitte unseres Alltags. Es braucht weder bestimmte Gaben noch müssen wir bestimme Vorleistungen bieten. Das gelingende Leben für die Menschen und damit das anbrechende Reich Gottes ist uns geschenkt.

Zwei Dinge kann ich aber nicht delegieren: Es liegt allein an mir selber, das Geschenk anzunehmen, Gemeinwohl und Reich Gottes zum Ziel meines Weges zu machen. Und so kann auch nur ich selber mich auf den Weg machen und die Antworten geben, warum ich diesen Weg gehe. Beides ist keine halbherzige Sache! Es gibt kein "halbes Reich Gottes", keine halbe Hochzeit als Ziel.

Frieden, Gerechtigkeit, sozialer Ausgleich und ganzheitliche Entwicklung als Ausdruck des Gemeinwohls und Vorgeschmack als Reich Gottes brauchen darum unseren täglichen und konkreten Einsatz. Sie sind immer wieder neu zu wagen, zu erarbeiten und zu gestalten.

 

Thomas Wallimann-Sasaki ist Theologe und Sozialethiker. Er ist Präsident a.i. der Nationalkommission Justitia et Pax der Schweizer Bischofskonferenz.