Eine Kultur des Erbarmens

Gedanken zum Sonntag 09. Dezember 2018 (Baruch 5,9)  

 

Im alttestamentlichen Buch Baruch lesen wir, dass Gott es zulässt, dass sein Volk wegen seiner Sünden aus der Heimat nach Babylon ins Exil verschleppt wird. Dort schreien die derart Gedemütigten auf zu ihrem Gott, auf dass er sie nicht länger bestrafe, sondern sie zurückführe in ihre Heimat. Und Gott hört die Klage und lässt sich erweichen, denn, so heisst es, «Erbarmen und Gerechtigkeit kommen von ihm» (Baruch 5,9). Wie das? Kommt das Erbarmen zuerst? Geht es gar auf Kosten der Gerechtigkeit? 

Vielleicht kann uns hier eine Legende weiterhelfen, die sich in Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow findet. Die schildert, wie eine Frau nach ihrem Tod vom Teufel gepackt und in den Feuersee geworfen wird. Ihr Schutzengel aber erinnert Gott daran, dass die Unglückliche einmal einer Bettlerin ein Zwiebelchen geschenkt hat. Worauf Gott zum Schutzengel sagt: «Nimm dieses Zwiebelchen und halte es ihr hin, damit sie sich daran klammere. Wenn es dir gelingt, sie aus dem See herauszuziehen, so möge sie ins Paradies eingehen.» Der Engel hält ihr das Zwiebelchen hin und beginnt vorsichtig zu ziehen. Als die anderen Sünder das sehen, klammern sie sich alle an sie, damit man sie mit ihr zusammen herauszöge. Doch die Frau stösst sie mit den Füssen von sich: «Mich zieht man heraus, nicht euch, es ist mein Zwiebelchen und nicht eures!» Da reisst das Zwiebelchen ab, und die Frau fällt in den Feuersee zurück.

So erbaulich diese Legende ist, sie erinnert uns doch daran, dass der rechtliche Standpunkt bei Weitem nicht immer der richtige ist; dass es gewichtige Gründe gibt, auf begründete Ansprüche zu verzichten; dass ein rein juristischer Umgang mit anderen uns menschlich verarmen lässt. Das Zusammenleben unter Menschen kann nur in dem Mass gelingen, als wir uns bemühen um eine Kultur des Erbarmens. Nicht zuletzt zeigt die Legende, dass wir selber auf die Zuwendung und die Vergebung anderer angewiesen sind. Vergebung und Zuwendung aber lassen sich nie erzwingen; sie sind genauso wenig einklagbar wie Wohlwollen oder Freundschaft oder Liebe. Liebe, Freundschaft oder Wohlwollen sind immer ein Geschenk, religiös gesprochen: reine Gnade. In der Tat finden wir Menschen nur zu uns selbst, wenn wir uns offen halten für die Gnade. Und unsere Rettung ist erst besiegelt, wenn auch wir Gnade walten lassen gegenüber unseren Mitmenschen.

 

Josef Imbach ist Verfasser zahlreicher Bücher. Er unterrichtet an der Seniorenuniversität Luzern und ist in der Erwachsenenbildung und in der Seelsorge tätig.