«Bischöfe haben keinen Grund, ängstlich zu sein»

In St. Gallen wird am Wochenende der neue Bischof geweiht. Papst Leo XIV. sagte jüngst: Bischöfe müssten manchmal gegen den Strom schwimmen. Können Bischöfe noch die guten Hirten sein, die sie in der Nachfolge Jesus sein sollen? Benedikt Steenberg, Kirchenrechtler und Mitherausgeber eines Buchs übers Bischofsamt, ordnet ein.

Herr Steenberg, Bischöfe werden immer als Hirten beschworen, die sich um Ihre Gläubige kümmern wie der gute Hirte um seine Schafherde. Ist diese romantisch-pastoral klingende Metapher heutzutage noch alltagstauglich und realistisch?

Benedikt Steenberg*: Ja und nein. Einerseits verkörpert diese Metapher sowohl vom Evangelium her als auch kirchengeschichtlich gesehen die Tradition des «guten Hirten», der als Person Verantwortung trägt für seine Herde, also für die Gläubigen. Dies gilt insbesondere für die Person des Bischofs, dessen Amt eng mit der Hirtenmetapher verbunden ist und der als Nachfolger der Apostel und kraft göttlicher Einsetzung gestärkt durch den Heiligen Geist die Dienste des Lehrens, Leitens und Heiligens fortführt. Auch heute ist noch von «Oberhirten» die Rede, wenn Bischöfe gemeint sind.

Und andererseits?

Steenberg: Andererseits widerspricht heutzutage die Hirtenmetapher aus meiner Sicht dem Empfinden vieler Katholiken, die sich nicht als Schaf in einer Herde verstehen, bei der es einen Hirten gibt, welcher der Herde gegenübersteht und der weiss, was gut für sie ist. Zudem sagte Jesus klar im Johannes-Evangelium, nur er sei der gute Hirte. Deshalb wäre es meiner Meinung nach charmanter, den Bischof eher als «Leithammel» denn als Hirte zu sehen, der als Teil der Herde gemeinsam mit den Gläubigen unterwegs ist und bei Bedarf den Weg weist. Das soll bitte nicht despektierlich verstanden werden.

Und natürlich hinkt dieser Vergleich auch, da Bischöfe ja über eine gewisse Amtsgewalt verfügen, die sie aus der Herde heraushebt. Vielleicht sollte man statt vom «Leithammel» lieber vom «Leader-Sheep» reden, da dieser Begriff auch die Leadership des Bischofs beinhaltet. Zudem birgt das Bild vom Bischof als «Oberhirten» der Kirche die Gefahr von Machtmissbrauch in sich, wie es in der 

Man hat das Gefühl, dass Bischöfe, insbesondere Diözesanbischöfe, mehr zu Glaubensverwaltern und Kirchenrechtsaufsehern geworden sind – heisst doch Bischof, übersetzt vom griechischen episcopos, ja eigentlich auch so viel wie Aufseher, Vorsteher und Hüter. Kümmern sich Bischöfe denn überhaupt noch im Sinne eines liebenden und sorgenden Hirten für ihre Schafe?

Steenberg: Rein kirchenrechtlich gesehen und sehr zugespitzt formuliert sind Diözesanbischöfe tatsächlich «Verwaltungsbeamte des Papstes», wie der Freiburger Kirchenrechtler Georg Bier es einmal formuliert hat. Sie haben bei ihrer Weihe dem Papst Gehorsam zu geloben und sind daher rechtlich im Zweifelsfall weisungsgebunden.

Das Kirchenrecht schreibt ihnen neben ihren pastoralen Aufgaben zahlreiche Amtspflichten vor. Dem Diözesanbischof wird etwa aufgetragen, seinen Hirtendienst für alle ihm anvertrauten christgläubigen Menschen wahrzunehmen. Konkret bedeutet dies, dass er seinen Hirtendienst hinsichtlich des «munus docendi» etwa, der Lehre, durch regelmässige Predigt und Auslegung der kirchlichen Glaubenslehren für die Gläubigen erfüllt und darüber wacht, dass die einschlägigen Vorschriften zu Predigt und Katechese befolgt werden.

Er trägt grundsätzlich auch eine Verantwortung für die Verkündigung der kirchlichen Lehre in seiner Diözese, etwa an den katholischen Schulen, hinsichtlich der Ausbildung der Lehrkräfte für den Religionsunterricht, an den kirchlichen Hochschulen und Universitäten sowie an Akademien und Bildungseinrichtungen. Weitere konkrete Rechte und Pflichten des Diözesanbischofs finden sich im kirchlichen Gesetzbuch.

Das hört ich sehr komplex an…

Steenberg: Das ist auch so. Gleichzeitig bleibt ihnen neben ihren Amtspflichten Raum für Kreativität und für eigene Akzente. Die Berufung der Bischöfe besteht, wie gesagt, darin, in apostolischer Nachfolge als Hirten in der Kirche zu lehren, zu heiligen und zu leiten, wie Christus die drei Aufgaben des Propheten, des Hohepriesters und des Königs in sich vereinte.

Ein guter Bischof sollte daher auch sorgsam mit dem Kirchenvermögen umgehen, und allgemein für Transparenz in seinen Entscheidungen sorgen, sich beraten lassen und eine Beteiligungskultur schaffen. Der Bischof von Limburg beispielsweise verpflichtete sich freiwillig, sich in seinen Entscheidungen an ein Synodengremium zu binden.

Das ist schön und gut. Aber warum widmen sich Bischöfe nicht mehr als Hirte ihren Schafen? Schliesslich sind doch die Gläubigen das Wichtigste – oder nicht?

Steenberg: Das ist absolut richtig. Es gehört zu den Amtspflichten des Diözesanbischofs, für seine Gläubigen da zu sein und nahbar zu sein. Dazu zählt auch, regelmässig die Pfarreien im Bistum zu visitieren, also zu schauen, ob dort alles seine Ordnung hat. Das ist aber auch eine gute Möglichkeit, mit den Menschen zu sprechen, um sich ihre Sorgen und Nöte anzuhören. Räume für den Austausch mit Gläubigen zu schaffen. Überhaupt einmal die Lebenswirklichkeit der Menschen wahrzunehmen und zuzuhören, ohne zu werten und zu urteilen oder gar zu verurteilen.

Wie meinen Sie das konkret?

Steenberg: Das Leben der Menschen ist an vielen Stellen komplexer und bunter als die kirchliche Lehre, die oft nur in schwarz und weiss denkt. Ich würde manchem Bischof einfach mal empfehlen, «undercover» seine Pfarreien zu besuchen, an Gottesdiensten teilzunehmen, um herauszufinden, wie es in den einzelnen Pfarreien so zugeht und was die Menschen umtreibt. Denn, wenn der Bischof offiziell zu Besuch kommt, ist die Kirche in der Regel voll, die Blaskapelle spielt und der Kirchenchor singt. Aber das ist ja nicht das Abbild der allsonntäglichen Realität.

Das hört sich originell an. Aber nochmals: Wäre es nicht viel dringender, dass die Bischöfe sich einfach mehr Zeit nehmen sollten für die Menschen, für die sie im Glauben stehen? Jeden Sonntag in der Eucharistiefeier wird im Hochgebet neben dem Namen des Papstes der Namen des Bischofs genannt. Doch sehen tut man so manche Bischöfe unter den Menschen oft nur selten.

Steenberg: Ich bin überzeugt, die meisten Bischöfe würden sich gerne mehr Zeit nehmen für die Sorgen der Gläubigen. Allerdings nehmen sie ihre Amtspflichten sehr in Beschlag, ebenso wie ihr voller Terminkalender. Es fehlt ihnen oft schlichtweg die Zeit.

Man darf auch nicht vergessen, dass historisch gesehen das Bischofsamt höfisch, wie eine kleine Monarchie, organisiert war, die viele Verpflichtungen mit sich brachte. Heutzutage müssen Bischöfe an Sitzungen der Bischofskonferenz teilnehmen, sie treffen sich mit Politikern und Interessenverbänden und müssen sich auch täglich um wichtige Vorgänge in der Verwaltung ihrer Diözese kümmern. Aber klar, wenn der Hirte nicht präsent ist, fühlt sich die Herde allein.

Die Ferne des Hirten zu den Gläubigen ist eine Sache. Eine andere, die einem als einfacher Kirchgänger von aussen auffällt: Man hat das Gefühl, so mancher Bischof verbarrikadiert sich hinter den Mauern des Bistums und scheut sich, an öffentlichen kirchlichen und gesellschaftlichen Diskussionen teilzunehmen. Warum wirken manche Bischöfe so ängstlich?

Steenberg: Bischöfe haben im Prinzip keinen Grund, ängstlich zu sein. Genau wie der Papst stehen sie in der Nachfolge Christi und der Apostel und können sich stets auf die freimachende Botschaft des Evangeliums und auf Gott berufen.

Wenn Bischöfe die frohe Botschaft des Evangeliums verkündigen, machen sie einen super Job – wenn sie dies authentisch tun, mit aufrichtigem Herzen. Und wenn sie das, was sie predigen, ernst meinen, gibt es keinen Grund Angst zu haben. Auch wenn das bedeutet, «gegen den Strom zu schwimmen», wie es Papst Leo XIV. jüngst sagte. Schon Papst Johannes Paul II. hat die Menschen immer wieder ermutigt: «Habt keine Angst!»

Sollen sich Bischöfe demzufolge in Ihrer Meinung auch politisch äussern?

Steenberg: Bischöfe können und müssen gesellschaftliche und politische Akzente setzen, um Dinge zu verändern. Zwar ist der direkte Einfluss der Kirche auf die Politik – Gott sei Dank, möchte man sagen – verschwunden. Die Zeit der Fürstbischöfe, die auch Landesherren waren, ist lange vorbei.

Das ist gut so. Grundsätzlich finde ich aber, muss Kirche politisch sein und klare Kante zeigen, wenn sie sich gemäss dem Evangelium für die Schwächsten und Ärmsten in der Gesellschaft, für die Marginalisierten und Stigmatisierten, einsetzen will. Papst Franziskus nannte das «an die Ränder gehen». Das Evangelium hat eine hochpolitische Botschaft. Die deutschen Bischöfe haben sich beispielsweise klar gegen extremistische, nationalistische und völkische Ansichten positioniert, weil es gilt, solche Extremismen in Kirche und Gesellschaft zu bekämpfen.

Kann es denn sein, dass die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft, der Missbrauchsskandal sowie die massenhaften Kirchenaustritte dafür gesorgt haben, dass Bischöfe sich öffentlich eher zurückhalten?

Steenberg: Dass manche Bischöfe hier und da öffentlich in die Defensive gegangen sind, hat sicher auch damit zu tun, dass sie aktuell immer wieder mit dem Versagen der Kirche und oft ihrer direkten Vorgänger im Umgang mit sexualisierter Gewalt konfrontiert werden. Die Kirche steckt daher aktuell in einer massiven Glaubwürdigkeitskrise, die sich ausdrückt in massenhaften Kirchenaustritten.

Sie hat die hohen moralischen Ansprüche, die sie an ihre Gläubigen anlegt, lange selbst sträflich nicht erfüllt. Das Vertrauen der Menschen in die Kirche ist schwer erschüttert. Wenn einem die Mitglieder davonlaufen, will man verständlicherweise nicht noch mehr schlechte Presse. Deswegen haben sich einige Bischöfe sicherlich eine gewisse gesellschaftliche Zurückhaltung auferlegt. Andererseits können sie sich, wie gesagt, immer auf das Evangelium als frohe Botschaft berufen, die ja eine befreiende, menschenfreundliche Botschaft ist. Und dazu sollten die Bischöfe nicht schweigen.

Apropos. Ist Bischofsein unterm Strich eher ein Traumberuf oder eine persönlich belastende Aufgabe?

Steenberg: Mit dem Begriff Traumberuf kann man hier nicht operieren, weil man auf den Beruf des Bischofs nicht hinarbeiten kann: Bischöfe werden in der Regel vom Papst berufen. Bischof zu sein ist deshalb in jeder Hinsicht eine Berufung, die man sich ja nicht aussucht. Bischöfe sind die authentischen Verkünder der frohen Botschaft. Wird diese Aufgabe mutig und im Sinn des Evangeliums ausgeübt, kann der Dienst des Bischofs, allen Belastungen, die das Amt mit sich bringt zum Trotz, sicherlich erfüllend sein und eine wunderbare Aufgabe darstellen.

*Benedikt Steenberg, geb. 1981, hat katholische Theologie in Freiburg i. Br. und Kanonisches Recht in Münster studiert. Seit 2017 ist er als Kirchenrechtler in der bischöflichen Verwaltung und am Diözesangericht des Bistums Hildesheim in Deutschland tätig. Zusammen mit Christoph Koller, Katrin Gallegos-Sánchez und Thomas Neumann hat er 2024 das Buch «Spielmacher Gottes? Facetten des bischöflichen Amtes» im Verlag Herder herausgegeben.