Daniel Pittet: «Hört auf mit dem Missbrauch! Was ihr anderen antut, ist schrecklich»
Der Westschweizer Diakon Daniel Pittet ist als Bub jahrelang von einem Ordensmann vergewaltigt worden. Nun schreibt er ein Buch über sexuellen Missbrauch in Familien. Er sagt: «Es gibt unglaublich viel sexuellen Missbrauch in der Schweiz. Und der verursacht grosses Leid.» Mit Aufklärung will er das Problem an der Wurzel packen.
Von seinem erlittenen Missbrauch hat die Öffentlichkeit 2017 erfahren. Daniel Pittet veröffentlichte das Buch «Mon Père, je vous pardonne» («Pater, ich vergebe euch»). Darin erzählte er, wie der Kapuziner A. ihn während vier Jahren missbrauchte. Das Buch machte den Autor schlagartig bekannt. Nun ist sein zweites Buch auf Deutsch erschienen: «Unerträgliche Geheimnisse – sexueller Missbrauch in Familien». Wie es dazu gekommen ist, erzählt der Autor im Gespräch mit kath.ch.
Vorträge und Anlaufstelle
Seit Publikation seines ersten Buchs wird Daniel Pittet regelmässig an Schulen eingeladen, über den erlittenen sexuellen Missbrauch zu berichten. Nach dem Vortrag erzählen ihm jeweils Schülerinnen, dass auch sie missbraucht würden. Auch telefonisch wird Pittet täglich von Missbrauchsbetroffenen kontaktiert. So wurde er zu einer inoffiziellen Anlaufstelle für andere Missbrauchsbetroffene.
«Die meisten dieser Menschen erleben Missbrauch in der Familie», liest Daniel Pittet aus diesen Erzählungen heraus. Missbrauchsbetroffene in der Kirche seien selten darunter. Da die katholische Kirche endlich angefangen habe, diese leidvolle Geschichte anzugehen, hat Pittet seine Aufklärungsarbeit auf Familien verlegt. «Da ist das Schweigen noch stark verankert», sagt er.
Geschätzt eine Million missbrauchte Menschen
Dabei habe der sexuelle Missbrauch in Familien eine enorme Dimension. «Experten schätzen, dass es eine Million missbrauchte Menschen in der Schweiz gibt», sagt Pittet. «Das ist unglaublich viel. Und jeder Missbrauch verursacht grosses Leid und führt oft zum Suizid.» Die Zahl der Missbrauchsbetroffenen in der katholischen Kirche der Schweiz – in den letzten 50 Jahren – schätzt er auf rund 30’000 – und nicht auf rund 1000, wie in der Pilotstudie zum Missbrauch in der Kirche angegeben.
«Ich wurde während Jahren vergewaltigt und bin daran zerbrochen fürs Leben», sagt Daniel Pittet. Er brauchte Jahrzehnte, um das Erlebte zu verarbeiten. Irgendwann war er stark genug, gegen das Leid, das er nun als gesellschaftliches Übel wahrnahm, aktiv zu werden. «Ich sagte mir: Man muss den Menschen sagen: Hört auf damit! Was ihr anderen antut, ist schrecklich.»
Familie bricht Schweigen
Das Thema müsse auf den Tisch, fordert Pittet. Das Schweigen müsse gebrochen werden. Dies sowohl seitens der Betroffenen, als auch seitens der Täter, ist er überzeugt. Sobald das Schweigen gebrochen wird, wird auch die Kette des Missbrauchs gebrochen, heisst es im neuen Buch «Unerträgliche Geheimnisse» immer wieder. Dann könnten Familien einen neuen Weg einschlagen.
Zu diesem Schweigen-Brechen wird er manchmal beigezogen. So war er dabei, als eine alte Frau die Familie ans Krankenbett rief und vom Missbrauch erzählte, den sie durch ihren Vater erlitten hatte. «Niemand sprach mehr, alle weinten», heisst es im Buch. Darauf gestand auch ihre älteste Tochter – mit Verweis auf ihre Schwestern: «Papa hat uns auch vergewaltigt.» Die Geschichte endet mit der Feststellung: «Indem sie sich von ihrem Geheimnis befreite, erlaubte die Mutter ihren Töchtern zu sprechen und ein weiteres, sehr schweres Geheimnis zu enthüllen.»
Vergewaltigung endet oft im Suizid
Wie belastend es ist, erlittenen Missbrauch in sich zu tragen, weiss Daniel Pittet aus eigener Erfahrung. «Ich konnte jahrelang niemandem davon erzählen», sagt er. Als er dann endlich reden konnte, kamen die Gewalt-Erinnerung in voller Wucht. «Die Emotionen waren so intensiv, dass ich mehrmals an Suizid dachte», schreibt Pittet im Buch. Zum Glück sei er da bereits in psychiatrischer Behandlung gewesen. «Die vergewaltigten Menschen sind eingeschlossen in eine Geschichte, die sehr oft in einem Suizid endet.»
Fragilität berücksichtigen
Seine Unterstützung beruht auf persönlichem, informellem Kontakt – und auf der Glaubwürdigkeit, die er als Betroffener bei anderen Opfern geniesst. Hinzu kommt das Wissen, das er sich durch Erfahrung und Kontakte angeeignet hat. «Ich rate nicht jedem, über den erlittenen Missbrauch zu sprechen», sagt er. Denn viele Betroffene seien dafür zu fragil. Sie könnten die Folgen der neuen Offenheit womöglich nicht ertragen – etwa die aggressive Reaktion des Umfelds.
«Ich bin keine Fachperson», sagt Daniel Pittet bescheiden. Dementsprechend versucht er Menschen, die sich an ihn wenden, beispielsweise zu einer Psychotherapie zu bewegen.
Wie Kirche, so Familie
Der Autor, der nun zu Missbrauch in Kirche und Familien geschrieben hat, sagt: «Kirchen und Familien funktionieren ähnlich.» Bei beiden Gemeinschaften gebe es eine Kultur des Schweigens, die zum Ziel habe, die Gemeinschaft nicht zu gefährden. Dies gehe auf Kosten ihrer schwächsten Mitglieder, der Missbrauchsbetroffenen.
Und die Täter? Diese beschönigten tendenziell ihren Missbrauch, sagt Daniel Pittet. So wie sein eigener Peiniger Pater A., der ihn rund 300-Mal vergewaltigte. Und der nachträglich behauptete: «Du hast nie Nein gesagt, du hast immer Freude gehabt.»
Gespräch mit Tätern
Solche Aussagen kontert Daniel Pittet heute. «Wenn mir heute ein Täter sagt, das sei doch nicht schlimm, antworte ich: Doch, das ist sehr schlimm für die Betroffenen; viele haben danach Suizidgedanken.» Der Missbrauchsbetroffene spricht inzwischen auch mit Missbrauchstätern, die sich bei ihm melden. Er ist überzeugt: «Auch mit diesen Menschen sollte man offen reden. Und ihnen sagen, dass sie Unterstützung brauchen.»
Als Bub konnte Daniel Pittet nicht Nein sagen. Inzwischen hat er den Verein «Nein, Non, NO» mitbegründet. Dieser hat eine Präventionskarte in den drei Landessprachen herausgegeben, auf der «Nein» steht. «Diese Karte sollen Kinder auf sich tragen und hervorholen, wenn sie es mit einem Perversen zu tun bekommen», schreibt Pittet auf der Vereinsseite. Er möchte weitere Aktionen initiieren – etwa eine schweizweite Kampagne gegen sexuellen Missbrauch von Kindern.
Buch über Missbrauch in Familien
In «Unerträgliche Geheimnisse – sexueller Missbrauch in Familien» nimmt der Westschweizer Diakon und Autor Daniel Pittet das Thema seines ersten Buches wieder auf. Diesmal liegt sein Augenmerk aber auf den Familien. Er äussert sich darin in den Kapiteln: «Befreiung der Rede», «Anerkennung des Opfers», «wohlwollenden Zeugnissen», «Bösartige Zeugenaussagen», «Zeugnisse von Missbrauchern» und «Nein sagen». In je einem Kapitel geben zwei Frauen Zeugnis ab über ihren erlittenen Missbrauch. Und Fachleute schildern ihre Einschätzung. So schreibt die Psychoanalytikerin Isabelle Sarne über «Inzest und Transgenerationalität».
Pittets Buch ist vom Verein «Non Nein No» publiziert worden und über dessen Webseite erhältlich. Seit 1. Juli ist ein Gesetz in Kraft, dieselben Anliegen unterstützt; es geht vom Grundsatz «Nein heisst Nein» aus.