Die Mathematik der Transzendenz
In einer Langzeitstudie hat das Schweizer Bundesamt für Statistik «Religion und Spiritualität» untersucht. Die Studie zeigt, dass die Säkularisierung weiter voranschreitet. Doch hinter dieser banalen Feststellung gibt es interessante Zusammenhänge zu entdecken.
Gott ist tot – zumindest, wenn man ihn mit der Linse der Statistik zu erfassen sucht. «Schweiz ohne Gott», «Gott ist out», «Gottlose Schweiz» – so konnte man gestern in Deutschschweizer Tageszeitungen lesen. Anlass für diese Titel war eine Studie des Bundesamtes für Statistik, die am Montag publiziert worden war und die «Religion und Spiritualität» zum Thema hat.
Gesellschaftliche Veränderungsprozesse
Alle Zahlen, die die Statistiker zusammengetragen haben, zeichnen einen Abwärtstrend nach: In der Schweiz gehören immer weniger Menschen einer Religionsgemeinschaft an; der Anteil der Bevölkerung, der an religiösen Veranstaltungen teilnimmt, hat abgenommen; immer weniger Menschen glauben an Gott. Zusammengenommen dokumentieren diese Zahlen einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess, der Säkularisierung genannt wird.
Das kennt man. Insofern hat die jüngste Studie des Bundesamtes für Statistik keinen Neuigkeitswert. Auch dass Medienschaffende übertreiben und einen Veränderungsprozess so präsentieren, als wüssten sie, worauf das alles hinausläuft – auch das kennt man.
Atheisten als Minderheit
Die Nachricht vom Tod Gottes ist übertrieben. Es lohnt sich jedenfalls die Studie des Bundesamtes genauer zu lesen. Keine Frage: Der Prozess der Säkularisierung schreitet voran. Aber noch sind zwei Drittel der Schweizerinnen und Schweizer Mitglieder einer Religionsgemeinschaft; Christinnen und Christen machen noch immer mehr als die Hälfte der hiesigen Bevölkerung aus.
Die Atheisten sind eine Minderheit: Nur 19,3 Prozent der Befragten geben an, nicht an einen Gott oder eine höhere Macht zu glauben. Diesem Fünftel der Bevölkerung steht eine gleich grosse Gruppe gegenüber, die angibt, nicht zu wissen, ob es einen Gott gibt. Zwei Fünftel glauben an einen einzigen Gott; ein Fünftel glaubt nicht an Gott, aber an eine «höhere Macht».
Die Frage nach den letzten Dingen
Die Redeweise von einer «Schweiz ohne Gott» ist falsch. Trotzdem ist aber seltsamerweise die Zahl der Gottgläubigen kleiner als die Zahl jener Menschen, die sich einer Religionsgemeinschaft zurechnen. Wohl kann ja auch ein guter Katholik oder eine theologisch geschulte Angehörige einer monotheistischen Religion mit der Frage nach Gott Mühe haben. Aber auch bei anderen Fragen zeigt sich, dass offenbar nicht alle Glaubensinhalte, die eine Religionsgemeinschaft ausmachen, von allen Mitgliedern geteilt werden.
Zum Beispiel im Zusammenhang mit der Frage nach den letzten Dingen: Mehr als die Hälfte der Befragten glaubt an ein Leben nach dem Tod. Für eine säkularisierte, stark naturwissenschaftlich-technisch geprägte Gesellschaft ist das viel. Es ist aber wenig, wenn man bedenkt, dass in dieser Gesellschaft rund zwei Drittel sich zu einer monotheistischen Religion bekennen, die in Sachen Eschatologie klare Vorgaben macht.
Diese Diskrepanz zeigt sich auch beim Beten: Nur knapp 40 Prozent der Befragten gibt an, regelmässig – das heisst mindestens einmal pro Monat – zu beten. Doch was ist hier mit «beten» gemeint? Nur gerade Vaterunser und Ave Maria? Oder vielleicht auch ein Lied oder eine wortlose Meditation?
Limitationen der Statistik
Spätestens hier zeigen sich die Beschränkungen der Untersuchung. Während sich etwa die Frage nach der Religionszugehörigkeit meist klar beantworten lässt, sind andere Fragen – «sind Sie religiös?» – schwieriger zu entscheiden. Wenn es so ist, wie vielfach vermutet wird, dass nicht die Religiosität abnimmt oder die Spiritualität, sondern die Verbundenheit mit traditionellen Religionsgemeinschaften, dann wäre es wünschenswert, dass die Statistiker hier Begriffe wie Spiritualität oder Gebet klarer definierten.
Zehn Prozent der Menschen, die aus einer Religionsgemeinschaft austreten, tun dies laut eigenen Angaben nicht, weil sie nicht mehr religiös wären, sondern weil sie ihre Religiosität ausserhalb eines institutionellen Rahmens ausleben möchten. Über diese nicht-institutionalisierte Religiosität würde man gerne mehr erfahren.
Was bedeutet es, wenn ein Viertel der Personen ohne Religionszugehörigkeit sich als «spirituell» bezeichnen? Was ist hier gemeint? Was erfahre ich über den Unterschied zwischen Männern und Frauen, wenn man mir sagt, dass letztere eher einverstanden seien mit der Aussage «mehr spirituelles Denken würde der Gesellschaft guttun»? Was ist gemeint mit der «Verwendung von glück-, schutz- oder heilbringenden Gegenständen»? Velohelm? Räucherstäbchen?
Gründe für den Kirchenaustritt
Zu den bemerkenswerten Erkenntnissen der Studie gehört nicht, dass die Säkularisierung weiter voranschreitet, sondern dass der Unglaube innerhalb der Konfessionen wächst. Das zeigt sich etwa daran, dass die Zahl der Gottesgläubigen kleiner ist als die Zahl der Mitglieder der monotheistischen Religionsgemeinschaften. Es kann deshalb auch nicht überraschen, dass der Verlust des Glaubens der am häufigsten genannte Grund für einen Kirchenaustritt ist. Weitere wichtige Gründe sind: «ist mit den Stellungnahmen der Religionsgemeinschaft nicht einverstanden» und «um Steuern oder finanzielle Beiträge zu vermeiden».
Bei dieser Frage zeigen sich Unterschiede zwischen den christlichen Konfessionen: Anders als bei den Reformierten ist bei den Katholiken im Zusammenhang mit einem Kirchenaustritt die Unzufriedenheit mit den Leitungsgremien wichtiger als der Unglaube. Fast zwei Viertel der aus der Kirche ausgetretenen Katholiken begründen diesen Schritt mit der Unzufriedenheit. Hier hat vermutlich das Thema «sexueller Missbrauch» in der Statistik Spuren hinterlassen.