Josef Hochstrasser zur Hymne: «Gott als Symbol relativiert sämtliche irdische Wirklichkeit»

«Schweizerinnen und Schweizer, die sich betont modern geben, ärgern sich über den Text des Schweizerpsalms. Für sie müssten viel eher die Digitalisierung, die EU, die künstliche Intelligenz und die LGBTQ-Bewegung in einer zeitgemässen Hymne besungen werden. Richtig, im Text einer Nationalhymne müssten die besten Werte eines Landes zum Zuge kommen, die eine Gesellschaft anstrebt. Doch ist die aktuelle Schweiz fähig, sich auf gemeinsame Werte zu einigen?

Konservative und Liberale waren sich spinnefeind

Viele haben vergessen, dass die Urheber der Schweizer Nationalhymne genau diese Einigkeit fertiggebracht haben. Und dies in einer äusserst schwierigen Zeit. Um 1840 waren sich Konservative und Liberale spinnefeind. (…)

Und heute? Die Gesellschaft Schweiz ist ebenfalls polarisiert und aufgewühlt. Wie soll da eine Schweiz zusammenstehen und geeint aus bewegtem Herzen die Nationalhymne singen?

34 Prozent Konfessionslose, aber…

Ich sehe eine Möglichkeit. Konkret: Gott! «… Eure fromme Seele ahnt Gott im hehren Vaterland»: So endet die erste Strophe der Hymne. Gott? Ausgerechnet Gott als einigendes Band einer widerstreitenden Schweiz?

Wo doch die Konfessionslosen mit annähernd 34 Prozent schon die grösste gesellschaftliche Gruppe stellen und dieser Trend mit Sicherheit zunimmt? Richtig, Gott soll als Symbol über allen zeitbedingten Begehrlichkeiten stehen, über der Forderung etwa nach neuen Atomkraftwerken, auch über jener einer kontrollierten Zuwanderung oder über allem Woke-Gezänk.

Gott als Symbol

Gemeint ist nicht die Vorstellung des traditionellen Gottes, einer Person – womöglich ein Mann – im Jenseits, die die Geschicke dieser Welt auf geheimnisvolle Weise lenkt und am Ende der Zeiten zum grossen Gericht ruft. Ich sehe Gott nicht als Person im Jenseits, sondern als Symbol und Erinnerungsmal für die Endlichkeit und Begrenztheit von allem, was ist. Alles, was ein Mensch denkt und tut, ist doch bloss vorläufig, macht vielleicht kurz Furore, wird aber mit Sicherheit bald wieder vergessen.

Alles geht vorüber – nur Gott nicht

So ergeht es allen Trends, allen Moden, aller Politik, jeglicher Macht. Sie alle gleichen einer Welle, die für eine Zeit lang aus dem Meer aufschäumt und einzigartig sein mag, gewiss aber bald wieder in den unendlichen Fluten des Meeres verschwindet. In Gott als Symbol für alle Endlichkeit sehe ich eine Chance, von einer überwältigenden Mehrheit der Gesellschaft akzeptiert und zu feierlichen Momenten gar besungen zu werden, denn jeder Mensch steht unter dem unerbittlichen Diktat, dass alles vorübergeht, ganz im Sinne des weisen griechischen Philosophen Heraklit: Alles fliesst.

Unter diesem Verständnis von Gott könnten sich die unterschiedlichsten Weltanschauungen im Land zusammenfinden: Atheistinnen, Freidenker, Linke, Rechte, Religiöse jeglicher Glaubensrichtung, Junge und Alte.

Symbole vermögen starke Kräfte zu entwickeln

Gott als Symbol relativiert sämtliche irdische Wirklichkeit. Nur ein Symbol, sagen Sie? Symbole vermögen starke Kräfte zu entwickeln und Lebendigkeit zu kreieren.

Wer demütig – und also in einem ganz anderen Sinn – gottesfürchtig lebt, der wird nicht nach Macht, Geld, Ansehen und verbissener Rechthaberei streben. Der wird keinen Krieg anzetteln. Der ist sich stets bewusst: «Gott» steht auch für meine Vergänglichkeit. Darum singt die Schweiz bei feierlichen Anlässen überzeugt: «Gott im hehren Vaterland …»

*Josef Hochstrasser ist Theologe und Buchautor. Er schrieb unter anderem eine Biografie über seinen Freund und Fussballtrainer Ottmar Hitzfeld. Dieser Text erschien zuerst in der Luzerner Zeitung.(woz)