Oscar Romero - seit 40 Jahren als Heiliger verehrt

Vor 40 Jahren wurde der Befreiungstheologe Oscar Romero ermordet. Lateinamerika-Kenner Josef Estermann findet Romeros Botschaft nach wie vor aktuell – gerade in Zeiten von Corona.

Vera Rüttimann: Ist die Befreiungstheologie tot?

Josef Estermann: So lange es Armut und Ausgrenzung jeglicher Art gibt, so lange wird es die Befreiungstheologie geben. In immer anderen Kontexten und Regionen. Unter den Armen und Entrechteten ist sie aktueller denn je und wird gelebt – viel mehr als gelehrt.

An welchen Satz von Oscar Romero denken Sie dabei?

Estermann: Für den Romero-Tag 2020 haben wir einen Satz von ihm genommen: «Mich könnt ihr töten, nicht aber die Stimme der Gerechtigkeit!» Die Stimme der Gerechtigkeit ist etwas Urbiblisches. Für mich heisst das konkret: Hinsehen und Rückgrat beweisen, vor allem, wenn Menschenrechte mit Füssen getreten werden. Solche Stimmen brauchen wir auch heute. Der Kampf für mehr Gerechtigkeit war Oscar Romeros zentrales Anliegen. Er ist aktueller denn je, weil die Welt seit seinem Tod vor 40 Jahren eher ungleicher und ungerechter geworden ist.

Wo hören wir heute prophetische Stimmen?

Estermann: Neben einer ganzen Kakophonie von Stimmen gibt es auch viele prophetische: Unter den bekanntesten Persönlichkeiten figurieren nicht nur Papst Franziskus oder Greta Thunberg. Es gibt in den sozialen Netzwerken zudem Millionen von Stimmen, die Unrecht anprangern. Sei es gegen Rechtsextremismus, faschistische Tendenzen oder neue Sexismen. Da sehe ich im Hintergrund viel Ameisenarbeit am Werk. Diese Stimmen sind nicht so sichtbar in der Medienwelt, aber sie sind wirksam. 

Welche Ungerechtigkeiten zeigt die aktuelle Corona-Krise?

Estermann: In erfolgs- und wohlstandsverwöhnten Ländern wie der Schweiz sind jetzt viele in Panik. Wir haben das Gefühl, dass wir mit Technologien und Geld unser Leben vollends absichern. Dieses Virus stellt nun alles auf den Kopf. Die Länder im Süden aber sind eigentlich viel mehr gefährdet. Sie werden die Wirtschaft- und Gesundheitskrise deutlich stärker spüren, weil sie nicht Milliarden zum Abfedern haben. Das finde ich eine grosse Ungerechtigkeit.

In der Schweiz gibt es aber auch Ungerechtigkeit.

Estermann: Hier sind es die Obdachlosen und die Flüchtenden, die völlig unbeachtet bleiben. Die Aufforderung «Bleibt zu Hause» kommt bei ihnen seltsam an, weil sie gar kein Zuhause haben.

Ein Thema dieses Jahr ist die Konzernverantwortungsinitiative (Kovi). Warum sind Sie zuversichtlich?

Estermann: Die jungen Leute sind durch Social Media gut informiert und reisen oft. Das Coronavirus hat ihnen gezeigt: Wir sitzen alle im gleichen Boot. So erhoffe ich mir schon einen Sensibilisierungszuwachs bezüglich solcher Ungerechtigkeiten und Missbräuche, wie sie die Kovi thematisiert. Man sieht ja auch an den Klimademos: Die Jugendlichen gehen wieder auf die Strasse.

Umgekehrt könnte man argumentieren: Wenn es der Wirtschaft schlecht geht, werden die nationalen Egoismen grösser.

Estermann: Die internationalen Unternehmen werden enorm viel Geld in die Hand nehmen, um die Annahme der Kovi zu verhindern, denn auf dem Buckel der Armen wir viel Profit erwirtschaftet.

Sie haben in Lateinamerika gelebt. Kannten Sie Oscar Romero persönlich?

Estermann: Nein, aber ich war 2000 in San Salvador und habe den Campus der Zentralamerikanischen Universität besucht, wo sieben Jesuiten zusammen mit der Haushälterin und deren Tochter brutal ermordet wurden. Ich habe dort den einzigen Überlebenden getroffen, Jon Sobrino. Er ist einer der bekanntesten Befreiungstheologen Lateinamerikas.

Und die Kathedrale von San Salvador?

Estermann: Natürlich habe ich die auch besucht. Das, was ich dort gesehen habe, hat mich schockiert, weil es so symbolhaft war: Oben die pompöse, klerikale Kirche, unten in der Krypta Romeros Grabstätte, die von einfachen Leuten aufgesucht wird. Es ist bezeichnend: Die Kirchenoberen haben alles versucht, um seine Selig- und Heiligsprechung zu verhindern. Vom Volk ist Oscar Romero seit 40 Jahren heiliggesprochen.

Josef Estermann hat mehrere Jahre in Bolivien und Peru gelebt. Heute ist er Verantwortlicher für Grundlagen und Forschung bei der Schweizer Entwicklungsorganisation Comundo, die ihren Hauptsitz im Romero-Haus in Luzern hat.