Aktuelle Nummer 20 | 2023
24. September 2023 bis 07. Oktober 2023

Seelsorgende reagieren auf Missbrauchskrise: «Die Kirche braucht fundamentale Reformen»

In Krisen ist schnelles Handeln wichtig. Ein moralischer Grundsatz, den sich Diakon Stefan Staub (55) offensichtlich aufs Banner geschrieben hat. Im letzten Jahr sorgte er dafür, dass 120 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Teufen AR untergekommen sind. Als Armeeseelsorger kann Stefan Staub auch mal zackig etwas anordnen. «Das kommt in kirchlichen Kreisen nicht immer gut an», sagt der Diakon.

Kommentar auf der Homepage der Pfarrei

Auch in der jüngsten Krise – der Missbrauchskrise der katholischen Kirche – hat der Seelsorger mit viel Zivilcourage nicht lange gezögert. Noch am Tag der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie veröffentlichte er einen Kommentar auf der Homepage seiner Pfarrei. Er spricht klare und mutige Worte.

Staub ist der Meinung, dass man nach der Veröffentlichung der Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche der Schweiz «nicht zur Tagesordnung zurückkehren» könne. Er befürchtet auch einen grossen Imageschaden: Nämlich, dass Seelsorgende die Schuld, welche die Kirche über Jahrzehnte durch Wegschauen, Vertuschen und Ignorieren auf sich geladen habe, nun ausbaden müssten.

Glaubwürdigkeit der Kirche in Frage gestellt

«Die Kirche sieht sich in ihrer grössten Krise – vermutlich der noch grösseren als es die Reformationszeit war», ist der Diakon in seinem Statement überzeugt.

Nicht zu Unrecht sei die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Vertreter in Frage gestellt. Sexueller Missbrauch – sei es an Erwachsenen oder – noch schlimmer – an wehrlosen Kindern, gebe es und habe es vermutlich in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens gegeben. Staub: «Jeder Missbrauch ist ein Skandal und zutiefst verwerflich.»

Die kirchlichen Würdenträger sind aus der Sicht von Stefan Staub eigentlich Menschen des absoluten Vertrauens. «Die biblische Botschaft ist eine Botschaft der Solidarität, der Gerechtigkeit und der Menschenwürde. Jeder Missbrauchsfall hat diese Prinzipien mit Füssen getreten.»

Zu den Wurzeln Jesu zurückfinden

Zu lange habe man den einstelligen Prozentsatz von Tätern aus falschem Mitleid geschützt. Vergebung sei erst möglich, wenn Einsicht und Gerechtigkeit einkehrten. «Darin hat die Kirche versagt. (…) Ich glaube, dass es ohne fundamentale Reformen nicht geht, wenn die Kirche wieder zu einer glaubwürdigen Zeugin der Liebe Gottes werden will. Sie muss zu den Wurzeln Jesu zurückfinden.»

Gemäss dem Seelsorger der Katholischen Kirche Teufen-Bühler-Stein ist die Krise aber auch eine Chance. «Die Kirche muss ihre Strukturen nach und nach überdenken und neu ordnen. Sie kommt nicht drum herum, sich die Zölibatsfrage und Geschlechterfrage ernsthaft zu stellen.»

«Dunkles Kapitel endlich ausgeleuchtet»

Auch Pfarrer Mario Pinggera, Seelsorger der Pfarrei Heilige Familie in Richterswil/Samstagern reagiert auf Anfrage von kath.ch. Das Ergebnis der Studie verwundert ihn aber keinesfalls. «Für mich ist es befreiend, dass dieses dunkle Kapitel endlich ausgeleuchtet wird.»

Pinggera ist seit 17 Jahren Seelsorger in Richterswil. Man habe von Anfang an ein Personalmanagement eingeführt, welches Missbrauch in jeder Hinsicht sehr erschwere. Etwa mit Massnahmen, die auf diözesaner oder nationaler Ebene erst Jahre später flächendeckend eingeführt worden seien.

«Im Gottesdienst Bezug genommen»

«Selbstverständlich habe ich bereits letzten Sonntag im Gottesdienst Bezug auf die aktuelle Lage genommen und werde dies weiter tun», sagt Pinggera. «Die Menschen haben viele Fragen, ausgesprochene und unausgesprochene. Und sie haben ein Recht darauf, gehört zu werden. Wenngleich Antworten in Anbetracht des verursachten Leides sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich sind.»

Diese Woche finde, so Pinggera, auch die Klausur des Seelsorgeteams in Richterswil statt. «Sie führt uns ins Fritz-Bauer-Institut nach Frankfurt. Bauer hat Auschwitz im grössten Prozess der deutschen Geschichte vor Gericht gebracht und damit das jahrzehntelange Schweigen gebrochen und den unzähligen Opfern somit eine Stimme gegeben. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Präsentation der Studie in die gleiche Woche fällt.» (kath.ch)