Aktuelle Nummer 19 | 2024
08. September 2024 bis 21. September 2024

Tessiner Kinderschutz-Expertin: «Auch Priester müssen zur Missbrauchs-Prävention beitragen»

Die Inhaftierung eines Priesters hat die Diözese Lugano erschüttert und bei uns allen Unglauben und Ohnmachtsgefühle verursacht. Sie sagen, es sei möglich Gewalt und Missbrauch gegen Kinder auf Null zu reduzieren. Tatsächlich?

Myriam Caranzano*:  Wir verfügen über das gesamte Wissen und die Erfahrung, die nötig sind, um Gewalt und Kindesmissbrauch zu beenden. Das sage nicht ich, sondern die Weltgesundheitsorganisation.

Das ist eine gute Nachricht. Und wie soll das gehen?

Caranzano: Es geht nicht darum, die Gewalt mit einem Zauberstab auszurotten, sondern eine ganze Reihe von Strategien zu entwickeln, die es uns ermöglichen, auf mehreren Ebenen zu handeln.

Würden Sie uns diese Strategien verraten?

Caranzano: Wenn Familien beispielsweise keine grossen finanziellen Probleme haben, wirkt sich das positiv auf die Lebensqualität des gesamten Haushalts aus. Von entscheidender Bedeutung ist übrigens die Unterstützung der Eltern. Eltern sollten dabei unterstützt werden, ihren Kindern ein gewaltfreies Aufwachsen zu ermöglichen. Das ist möglich. Ich sage Ihnen das als Mutter von vier Kindern. Und das ist ein wesentlicher Aspekt der Prävention. Denn wenn es gelingt, die Anwendung von Gewalt in der Erziehung zu unterbinden, gewinnt die Gesellschaft als Ganzes.

Dies betrifft primär die Eltern. Was kann mit den Kindern direkt bearbeitet werden?

Caranzano: Die sogenannten Life Skills – also Fähigkeiten, die in den Kindern selbst entwickelt werden können. Wenn ein Kind gelernt hat, dass niemand ihm wehtun oder ein schlechtes Gewissen machen darf, niemand es anschreien, schlagen oder in seine Privatsphäre eindringen darf, kann das einen grossen Unterschied machen.

Im September wird zum zweiten Mal ein Präventionszyklus für Priester und Seminaristen in der Diözese beginnen. Was sind die Ziele dieses Kurses?

Caranzano: Erstens geht es darum, alle Arten von Missbrauch zu beleuchten: den sexuellen, körperlichen, psychologischen und geistlichen Missbrauch. Zweitens gilt es zu verstehen, wie sich ein Priester oder eine kirchliche Person verhalten sollte, wenn sie einem Opfer begegnet, das sich ihm oder ihr anvertraut. Drittens wird aufgezeigt, wie ein Priester zur Prävention beitragen kann. Wir wollen dafür zu sorgen, dass es keine weiteren Opfer gibt. Deshalb ist es wichtig, dass auch Priester zu dieser grundlegenden Prävention beitragen.

Wird auch die Täterseite beleuchtet?

Caranzano: Ja, wir möchten auch die Botschaft vermitteln, dass es Einrichtungen gibt, in denen eine Person, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlt, Hilfe suchen kann. Das gilt für jede Person, ob Mann oder Frau. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass auch Frauen missbräuchliches Verhalten zeigen können. Der Kurs kann auch ermöglichen, die notwendige Hilfe zu finden, um nicht zur Tat zu schreiten. Dies ist ein heikler Punkt, denn es ist nicht leicht, so etwas zuzugeben. Aber es ist eine Einladung, die ich systematisch ausspreche: Wenn jemand das Problem bei sich erkennt, ist es wichtig, sich Hilfe zu holen. Ich möchte hinzufügen, dass dieses Hilfsangebot auch für Angehörige von Straftätern wichtig ist. Auch für sie kann Hilfeholen bedeuten, weiteres Leid zu vermeiden.

Im Herbst wird eine Gruppe zur Anhörung und Unterstützung von Opfern ihre Arbeit aufnehmen. Das gab es bisher im Tessin noch nicht. Sie haben diese koordiniert.

Caranzano: Die Pilotstudie der Universität Zürich zum Missbrauch in der katholischen Kirche hat die Bedeutung von Selbsthilfegruppen für Missbrauchsopfer in der deutschen und französischen Schweiz aufgezeigt. Und da es in der italienischen Schweiz nichts Vergleichbares gab, sahen Simonetta Caratti und ich es als notwendig an, eine solche Gruppe zu gründen. Wir haben uns Zeit genommen, um sie wirklich solide aufzubauen. Es ist sehr wichtig, dass Opfer, die sich an die Gruppe wenden, bei geschulten Personen ein offenes Ohr finden.

Im Unterschied zu den Gruppen in der Westschweiz und der Deutschschweiz öffnen wir die Gruppe für alle, nicht nur für die Opfer. Ich glaube nämlich: Wer missbraucht wurde, hat auf psychologischer und emotionaler Ebene noch viel zu verarbeiten, bevor er oder sie in der Lage sind, sich in den Dienst der anderen zu stellen. Zurzeit sind wir eine gute multidisziplinäre Gruppe, die gute Arbeit leisten will. (catt.ch/ Adaption Regula Pfeifer)

* Myriam Caranzano ist ehemalige Direktorin der Tessiner Stiftung für Hilfe, Unterstützung und Schutz von Kindern ASPI und internationale Expertin zum Thema Prävention von Gewalt gegen und Missbrauch von Kindern.