«Die Menschen wünschen sich, dass ihnen jemand zuhört»: Warum Palliative Care die beste Antwort auf Sterbehilfe ist

Was machen Sie genau?

Caroline Walker Miano*: Der Oberwalliser Verein für Sterbe- und Trauerbegleitung begleitet seit mehr als 18 Jahren ehrenamtlich Menschen an ihrem Lebensende. Wir begleiten alle Menschen ungeachtet ihrer Religion, ethnischen Herkunft oder politischen Einstellung.

Warum wurde dieses Angebot damals lanciert?

Walker Miano: Im Oberwallis gab es zu dieser Zeit eine Nachfrage nach einem solchen Angebot. 2003 lancierte das Bistum Sitten eine Weiterbildung zur Sterbe- und Trauerbegleitung, an der ich teilnahm. Nach dieser Ausbildung habe ich mich mit einigen anderen Absolventinnen und Absolventen zusammengeschlossen, um einen ehrenamtlichen Verein im Oberwallis zu gründen.

Woran haben Sie sich orientiert?

Walker Miano: Als Vorbild diente uns ein Sterbebegleitungsangebot, das es in Luzern schon gab. Gleichzeitig wurde 2004 auch das Netzwerk Palliative Care Oberwallis gegründet, in dem alle hiesigen Institutionen rund um die Palliativpflege zusammengeschlossen sind. 

Wie gestaltet sich die Begleitung Ihres Vereins?

Walker Miano: Wir organisieren Sitzwachen mit den Angehörigen, den Pflegefachkräften oder Seelsorgerinnen und Seelsorgern der verschiedenen Institutionen. Diese bieten wir in allen Institutionen an, aber auch in Privathaushalten hier im Oberwallis.

Was passiert nach dem Tod?

Walker Miano: In wenigen Fällen kann es vorkommen, dass Angehörige nach dem Hinschied ihrer Liebsten noch mit der Begleiterin oder dem Begleiter sprechen möchten, die oder der anwesend war, als der Tod eingetreten ist.

Übernimmt der Verein auch pflegerische Arbeit?

Walker Miano: Nein. Bei den Sitzwachen geht’s nicht um pflegerische und medizinische Tätigkeiten. Sterbehilfe ist ebenfalls kein Bereich unseres Angebots.

Besteht das Team nur aus Ehrenamtlichen?

Walker Miano: Genau. Das Team setzt sich zu rund einem Drittel aus Pflegekräften und zu zwei Dritteln aus Ehrenamtlichen ohne medizinischen Hintergrund zusammen. Wir haben sowohl Frauen als auch Männer im Team. Sie alle bringen ein hohes Mass an Flexibilität und Belastbarkeit mit. Zurzeit leisten 32 Mitglieder diese Freiwilligenarbeit.

Wo finden die meisten Sitzwachen statt?

Walker Miano: Die Begleitungen finden zu 97 Prozent in der Nacht statt und sind sehr unterschiedlich. Die meisten Einsätze haben wir in Alters- und Pflegeheimen. Begleitungen im privaten Umfeld machen den kleineren Teil der Sitzwachen aus. Dies hat sich aber seit der Pandemie stetig verändert. Zusammen mit einer Kollegin koordiniere ich die Einsätze und wir haben dabei festgestellt, dass die Anfragen aus dem privaten Bereich zugenommen haben.

Warum ist das so? 

Walker Miano: Durch die Pandemie war der Zugang zu den Institutionen eingeschränkt und viele Betroffene haben gemerkt, dass sie auch zuhause unterstützt werden können. Im Wallis sind wir zudem in der misslichen Lage, dass in den Alters- und Pflegeheimen die Pflegebetten für die nun kommende Baby-Boomer-Generation fehlen. Und dann ist der Weg zu den Zentren auch allein durch die Topografie des Wallis eingeschränkt. In den Bergdörfern machen wir also häufiger Begleitungen zuhause.

Gibt es Zeiten am Tag und im Jahr, wo Sie mehr Anfragen erreichen?

Walker Miano: Die häufigsten Anfragen erreichen uns zwischen 14 und 18 Uhr. Das bedeutet: Ab 22 Uhr desselben Abends sitzt bereits ein Ehrenamtlicher oder eine Ehrenamtliche am Bett des sterbenden Menschen. Momentan haben wir sehr viel zu tun. Es kann sein, dass drei Wochen lang das Telefon gar nicht klingelt, aber auch, dass am gleichen Tag drei Anfragen eintreffen.

Wie lange dauert so eine Betreuung?

Walker Miano: Das kommt auf den Zustand an, in dem sich die Patientinnen und Patienten befinden. Manche sterben noch in derselben Nacht. Andere brauchen über mehrere Wochen hinweg eine Unterstützung – nachts und manche sogar 24 Stunden täglich.

Wie erleben Sie die Begegnungen mit den Angehörigen? 

Walker Miano: Wir begleiten sehr viele hochbetagte, multimorbide Menschen, die ebenfalls schon ältere oder gar keine Angehörigen haben. Unser Dienst dient im privaten Bereich vor allem der Entlastung der Angehörigen und in den Institutionen der Entlastung des Pflegepersonals.

Beteiligen sich auch Angehörige an der Sitzwache? 

Walker Miano: Ja. Oft findet schon eine Trauerbegleitung am Bett statt. Man redet mit den Angehörigen über das Leben der sterbenden Menschen, erklärt ihnen, was beim Sterben passiert.

Kommen dabei auch religiöse Themen zur Sprache?

Walker Miano: Absolut. Spiritualität und der Sinn des Lebens sind häufige Themen, unabhängig von der Religionszugehörigkeit. Habe ich gut gelebt? Habe ich alles richtig gemacht? Was bleibt von mir? Es wird zusammen gebetet, oft auch mit Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die hinzugerufen werden.

Was finden Sie am Sterbehilfe-Gesetz problematisch, über das im Wallis am 27. November abgestimmt wird?

Walker Miano: Problematisch ist sicher, dass Palliative Care und assistierter Suizid in derselben Vorlage genannt wird. Manche sagen, das sei kein Widerspruch. Doch für Menschen, die sehr religiös sind, ist assistierter Suizid ein grosses Thema und führt für sie zu einem ethischen Dilemma. In der Schweiz haben wir eine sehr liberale Haltung zu diesem Thema. Auf der anderen Seite ist Palliative Care etwas, was man sehr gut mit Schulungen und Öffentlichkeitsarbeit verankern muss.

Sollte das Gesetz angenommen werden: Welche Auswirkungen hätte es für die künftige Arbeit von Oberwalliser Pflegeinstitutionen und deren Personal?

Walker Miano: Jede Institution muss sich Gedanken machen über ihr Leitbild und ihre Wertehaltung. Das muss klar kommuniziert werden. Das Personal konnte vorher nicht dazu gezwungen werden, der Suizidbeihilfe beizuwohnen – und wird es auch danach nicht. Ich denke jedoch nicht, dass der assistierte Suizid bei einer Annahme des Gesetzes exorbitant ansteigen wird. 

Wünschenswert wäre aber eine Empfehlung des Kantons gewesen, die jede Institution dazu aufgefordert hätte, eine klare Stellungnahme dazu abzugeben und ein Konzept dazu auszuarbeiten. Damit auch die jetzigen oder künftigen Bewohnerinnen und Bewohner wissen, was in der jeweiligen Einrichtung für eine Philosophie gelebt wird und Ängste vermindert werden können.

Würden die katholischen Seelsorgerinnen und Seelsorger, die im Spital und Altersheim tätig sind, durch die Annahme der Vorlage mehr belastet? 

Walker Miano: Ja, aufgrund ihres Glaubens und ihrer Wertehaltung. Doch nicht nur für katholische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist das ein Dilemma, sondern generell für religiöse Oberwalliserinnen und Oberwalliser. Ich spüre diese Not auch, wenn ich mich mit diesen Menschen unterhalte. Sie fürchten sich davor, dass aufgrund einer solchen Gesetzgebung eine Steigerung des assistierten Suizids stattfindet. Das muss ernstgenommen werden.

Ihr Fazit? 

Walker Miano: Es gibt viele Menschen in finalen Situationen, die keine Sterbehilfe in Anspruch nehmen wollen, sondern sich einfach nur wünschen, dass ihnen jemand zuhört. Man kann über das Sterben reden, wenn man einen Menschen hat, der echt und wahrhaftig ist und einem zur Seite steht. Wie wir Ehrenamtlichen, die helfen, diesen letzten Weg mitauszuhalten. 

* Caroline Walker Miano ist ausgebildete Sterbe- und Trauerbegleiterin sowie Gründungsmitglied, Präsidentin und Stellenleiterin des Oberwalliser Vereins für Sterbe- und Trauerbegleitung. (kath.ch)