Aktuelle Nummer 25 | 2024
01. Dezember 2024 bis 14. Dezember 2024

«Gedanke an den Tod sollte Menschen helfen, das Leben zu wagen»: Zum «Zauberberg»-Jubiläum

Der deutsche Literaturnobelpreisträger Thomas Mann (1875-1955) manifestierte in seinem Jahrhundertroman nicht explizit religiöse Ambitionen. In seinem Opus Magnum «Der Zauberberg» (1924), in dem er die Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg in der hermetischen Welt eines Davoser Lungensanatoriums regelrecht durchleuchtet und in dem es nicht nur vordergründig um die Frage von Leben und Sterben geht, hat er den Satz kreiert:

«Der Mensch soll um der Güte und der Liebe Willen dem Tode keine Herrschaft über seine Gedanken einräumen».

Eine Sentenz, die religiöse Dimensionen erschliesst, und zu der sich für kath.ch einige Personen ihre Gedanken gemacht haben.

Abt Urban Federer, Kloster Einsiedeln: «Den unberechenbaren Tod täglich vor Augen haben», ist eine Aufforderung meines Ordensvaters, des heiligen Benedikt, an uns Mönche und Nonnen (Benediktsregel 4,47). Wie kann ich als benediktinisch geprägter Mensch die Aussage von Thomas Mann in seinem «Zauberberg» verstehen, dem Tod keine Macht über die eigenen Gedanken einzuräumen?

Moderner Roman des 20. Jahrhunderts

Zuerst einmal müssen wir verstehen, in welcher Zeit Thomas Mann diesen Roman schrieb. Der «Zauberberg» gilt als einer der ersten modernen Romane des 20. Jahrhunderts. Die Handlung ist darin auf ein Minimum beschränkt. Der Akzent des Romans liegt auf Gesprächen zwischen den Figuren und auf inneren Monologen der Hauptfigur Hans Castorp. Hierhin gehört auch der Satz, zu dem ich mir in diesen Zeilen meine Gedanken mache.

Hans Castorp befindet sich in einem Sanatorium von Davos in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Seine ganze Umgebung ist geprägt vom Geruch des Todes. Thomas Mann unterlegt dafür dem Roman eine ironische Grundhaltung, die Krankheit und Tod bis ins Detail beschreibt. Dabei steht der Tod nicht einfach für den Ausgang von Lungenkrankheiten, die im Sanatorium kuriert werden sollten.

Krankheit und Tod spiegeln für Thomas Mann die Dekadenz der damaligen bürgerlichen Gesellschaft. Diese Dekadenz prägte seiner Meinung nach eine ganze Generation und zeigte sich vor allem in der Kriegsbegeisterung, die viele Länder Europas vor dem grossen Krieg erfasste.

Für das Leben kämpfen, nicht für den Tod

In der morbiden Umgebung dieser Welt macht Hans Castorp in einem Schneesturm die Erfahrung, dass er für das Leben kämpfen muss, nicht für den Tod. Diese Todeserfahrung lässt ihn beschliessen, in seinem Leben nur noch der Liebe und der Güte Platz zu geben. Kaum ist Castorp allerdings im Sanatorium zurück, übergibt er sich wieder diesem gewohnten Leben, das auf den Tod zusteuert.

Der Satz, um den es in diesen Gedanken geht, relativiert also für einen Augenblick die todbringende Grundhaltung des Romans und gibt der Humanität und der Liebe Platz. Für Thomas Mann ist das allerdings nur ein kurzes Aufbäumen des Lebens, das in einer kriegsbegeisterten Zeit keinen Platz hat.

Und so läuft der Roman auf den Schrecken des Weltkrieges zu. Als er 1924 erschien, war der Krieg zwar bereits Geschichte. Den Schrecken dieser Zeit wollte Thomas Mann allerdings weiterhin die Gedanken von Humanität und Liebe entgegensetzen.

«Tod als biologische Grenze unseres Lebens»

Dass der Tod als Haltung und Grundstimmung nicht das Ziel des Lebens sein kann, war auch dem heiligen Benedikt im 6. Jahrhundert bewusst. Der Gedanke an den Tod als biologische Grenze unseres Lebens sollte dem Menschen vielmehr helfen, das Leben zu wagen und es wirklich zu leben, ist es doch begrenzt und darum kostbar. Wie Thomas Mann ist darum auch Benedikt überzeugt: Für das Leben müssen wir kämpfen, allem Todbringenden dieser Welt müssen Liebe und Güte gegenübergestellt werden.»

Propst Martin Werlen, Propstei St. Gerold: «Der Tod ist das einzig Tod-Sichere in unserem Leben. Und trotzdem – oder vielleicht deshalb – tun wir uns so schwer mit dieser Wirklichkeit. Der heilige Benedikt nennt im 6. Jahrhundert in seinem Leitbild für Mönche ein Werkzeug fürs Leben: «Vertraut sein mit dem Gedanken an den eigenen Tod».

Wie geht das zusammen mit der zentralen Weisung von Thomas Mann in seinem Werk «Der Zauberberg»? Wer sich ständig aufs Sterben vorbereitet, verpasst das Leben. Und wer das Sterben aus seinen Gedanken verdrängt, verpasst das Leben ebenfalls. Beide Weisen des Umgangs mit dem Tod räumen diesem letztlich die Herrschaft über die Gedanken ein.

Die schlichte Vertrautheit mit dem Gedanken an den eigenen Tod gibt diesem keine Herrschaft – weder im Fixiertsein noch im Verdrängen. Silja Walter (1919-2011) zeigt uns den Horizont, den der christliche Glaube uns öffnet: «Was ist es doch verkehrt, sich auf den Tod vorzubereiten! Auf das Leben, auf unsere Auferstehung, auf den ausbrechenden Himmel in uns haben wir uns vorzubereiten, ein Leben lang, und dann vor allem, wenn es mit uns zu Ende geht.»

Ella Gremme, Pfarreiseelsorgerin in Baden: «Ob es in den Bergen leichter fällt, sich der eigenen Lebendigkeit bewusst zu werden? Sind Gedanken Kräfte, Zauberkräfte?

DJ Mico beschreibt in seinem Popsong jedenfalls die Schweizer Berge als etwas Zauberhaftes: «In da Bündner Berga bini nia allai.» Auch Thomas Mann wusste, dass die Davoser Berge einer der schönsten Plätze dieser Welt sind. Das Lied vom DJ Mico hätte ihm gefallen.

Schöne und gute Gedanken entwickeln sich in einer sicheren Umgebung. Wir haben keine Antworten, aber den Raum, darüber zu sprechen. «Der Mensch soll um der Liebe und der Güte willen dem Tod keine Herrschaft über seine Gedanken einräumen», so beschreibt Thomas Mann vor 100 Jahren in seinem Roman «Der Zauberberg» einen Raum.

Thomas Mann wurde durch den Kuraufenthalt seiner Frau in Davos zu diesem Roman inspiriert. Vor 100 Jahren ging etwa jeder zehnte Todesfall auf Tuberkulose zurück. Medikamente gab es keine, aber eine Höhenkur gegen die sogenannte Schwindsucht konnte manchmal heilen. Thomas Mann lässt seinen Helden Hans Castorp von Hamburg nach Davos reisen, um seinen kranken Cousin zu besuchen. Aus den drei Wochen werden sieben Jahre, die sein ganzes Leben verändern werden. Es liegt ein Zauber auf dem Berg. Er ist dem Alltag entflohen. Geht es ihm wie in dem Lied?

«Gedanken sind Kräfte, Zauberkräfte»

«In da Bündner Berga bini nia allai». Meint dies eine Erfahrung, die man letztendlich mit Gott macht? Eine existentielle Erfahrung von Liebe und Heimat? Liegt der Zauber im Ende? Liegt der Zauber des Lebens darin zu erkennen, dass alles, was bleibt, die Schwelle zum Tod ist? Und dass die grosse Kunst des Lebens darin besteht, dem eigenen Tod einen Stuhl an seinem Lebenstisch anzubieten, aber keine Macht und keine Herrschaft?

Hans Castorp blieb lange in den Bergen, Thomas Mann kehrte nach seinem Exil in Amerika in die von ihm geliebte Schweiz zurück. Und auch mein Lebensweg führte mich vor vielen Jahren in die Schweiz. Gedanken sind Kräfte, Zauberkräfte.»

Einmaligkeit und Qualität des Lebens schätzen

Ann-Katrin Gässlein, Theologin: «Für Menschen in einer schweren Krankheit, mit unsicheren Zukunftsaussichten oder einer klaren Todesdiagnose, würde ich dieses Zitat seelsorgerlich deuten: um die Kostbarkeit, Einmaligkeit und Qualität des Lebens zu schätzen.

Vielleicht ist es auch der einzige Trost für Menschen, die keinen Glauben an eine sie liebende, schützende, bewahrende Macht ausserhalb ihrer selbst aufbringen. Aus dem Kontext des «Zauberbergs» gelöst und aus einer christlichen Sicht ist das Zitat aber schwierig.

Das Pascha-Mysterium

Unser Glaube basiert darauf, den Tod – den Paulus als der «Sünde Sold» bezeichnet – nicht auszublenden. Im Zentrum unseres Glaubens steht das Pascha-Mysterium, zu dem nicht nur Auferstehung Jesu Christi, sondern auch sein Tod gehören.

Unser Leben und unsere Welt enden mit dem Tod. Als Christen und Christinnen haben wir eine – begründete – Hoffnung, dass wir wie Christus auferstehen. Dem Tod können wir aber trotzdem nicht ausweichen.

An unsere Verwiesenheit auf den Tod und unsere Hoffnung auf Auferstehung erinnern wir uns jedes Mal, wenn wir uns bekreuzigen; und in jedem Hochgebet haben wir einen Ort für die persönliche und kollektive Erinnerung der Menschen, die vor uns gestorben sind – verbunden mit der Bitte, dass sie Auferstehung erfahren haben.» (kath.ch)