«Ich kenne die jüdische Kultur ebenso wie die Armee»

Jonathan Schoppig ist Jude und Armeeseelsorger. 2021 sorgte der Fall Benjamin für Schlagzeilen: Ein Jude erlebte in der Schweizer Armee Judenwitze und Nazi-Memes. Daraufhin wurde Schoppig aktiv.

Regula Pfeifer (kath.ch): Haben Sie im Militär Schwierigkeiten wegen Ihrer Religion erlebt?

Jonathan Schoppig*: Nein, ich habe selber nie Schwierigkeiten erlebt, die mit Religion zu tun gehabt hätten.

Haben Sie die normale militärische Ausbildung oder eine dreiwöchige Kurzversion davon gemacht?

Schoppig: Ich habe 21 Wochen RS gemacht und dann Einsätze geleistet als Sprachspezialist – anstelle der sonst üblichen WKs. Dabei wirkte ich als Rollenspieler, als Englischlehrer, als Sprachspezialist im Spitzensport in Magglingen. Bis 2016 habe ich meinen Militärdienst fertig geleistet.

Bald werden Sie als Armeeseelsorger beratend tätig sein.

Schoppig: Ich bin stolz darauf: Ab nächstem Jahr kann ich in der Armee eine Mediatorenrolle einnehmen in Konflikten religiöser Natur. Wenn etwa ein jüdischer Rekrut seine religiöse Praxis ausleben will und sein Vorgesetzter das nicht zulässt. Sobald der Rekrut einen Seelsorger kontaktiert, wird mich dieser sicherlich anrufen und sagen: Komm bitte helfen.

Inwiefern können Sie vermitteln?

Schoppig: Ich kann als Mediator wirken, weil ich beide Seiten kenne. Ich verstehe, was jüdische Kultur ausmacht und was der Rekrut braucht, um seine Religion ausleben zu können. Ich verstehe aber auch den Kompaniekommandanten, der einen guten Betrieb haben will. Ich hoffe, dass ich in solchen Situationen Lösungen finde, um die unterschiedlichen Interessen auszugleichen.

Ist es schwierig, im Militär Zeit fürs Gebet zu finden?

Schoppig: Das ist so. Aber bei mir ging es eigentlich immer, in der Pause zu beten. Es ist ja auch wichtig, dass wir nie bevorzugt behandelt werden. Wenn ich sage: Ich brauche zehn Minuten für mein Gebet, dann soll das auf Kosten meiner Pause gehen. Die anderen sollen in dieser Zeit auch Pause haben und diese für ihre Bedürfnisse nutzen können. Das Gebet soll in der Stunde geschehen, die man für sich hat. Da kann man auch duschen und sich darauf vorbereiten. Oder man steht am Morgen früher auf. Wenn jemand die Religion ausleben will, ist er oder sie auch bereit, das auf Kosten der Freizeit zu tun, sodass dies den Dienstbetrieb möglichst nicht beeinträchtigt.

Können Sie diesbezüglich also konkrete Ratschläge geben?

Schoppig: Absolut, da bin ich überzeugt. Das gehört zu meinen Kernkompetenzen. Ich kenne die jüdische Kultur ebenso wie den Armeebetrieb. Ich bin kein externer Experte, der ohne viel Ahnung herangezogen wird. 

Ist denn die Religion das Hauptproblem der Rekruten und Rekrutinnen?

Schoppig: Nein, wie ich in der Ausbildung erfahren habe, betreffen die Probleme mehrheitlich das zivile Leben und sind eher selten religionsspezifisch. Es geht etwa um die Liebe, die Familie. Aber falls es doch ein religiöses Problem gibt, sind wir Armeeseelsorger mit unseren unterschiedlichen religiösen Hintergründen dafür da.

Was tun Sie, wenn ein Muslim eine religiöse Frage hat?

Schoppig: Dann rufe ich sofort Muris Begovic an, den Armeeseelsorger mit muslimischem Hintergrund, schildere ihm das Problem und bitte ihn, hier unterstützend zu wirken. Wir sind Teil eines Teams und haben bisher einen ausgezeichneten Austausch untereinander. Und wir haben enorm viel Fachkenntnisse. Ich finde es megaschön, dass die Armee nun religiöse Expertinnen und Experten in ihren Reihen hat.

Als Armeeseelsorger sind Sie für alle Ansprechperson. Sind Sie damit zufrieden, oder würden Sie lieber nur jüdische Armeeangehörige beraten?

Schoppig: Es ist sehr gut so. Es braucht keine Trennung innerhalb der Armee. Wir sind alle Angehörige der Armee und tragen die Uniform. Wir alle müssten im schlimmsten Fall unter Lebensrisiko das Land verteidigen. Das steht an erster Stelle und das vereint uns. Eine Einteilung der Armeeseelsorge in unterschiedliche Religionen und Konfessionen, wie es in anderen Ländern gehandhabt wird, wäre unschweizerisch. Wir funktionieren anders. Ich finde es gut, dass wir Armeeseelsorger für alle zuständig sind und gleichzeitig unsere Fachkenntnisse einbringen können zugunsten der Armee.

Ist Ihnen irgendwann klar geworden, dass es eine besondere Seelsorge für jüdische Armeeangehörige braucht? Gab es Diskussionen in Ihrem Umfeld?

Schoppig: Es gibt den Fall Benjamin, der 2021 in den Medien bekannt wurde. Benjamin hatte in der Armee recht unschöne Szenen erlebt. Und in einem Chat seines Zuges hat er unschöne Sachen lesen müssen. Ich glaube, das war mit ein Auslöser für die Ausweitung der Armeeseelsorge. Die Armee reagierte damals richtig. Sie schwieg die Angelegenheit nicht tot, sondern reagierte darauf. Sie gab bekannt, dass sie mit Strafe auf solche Vorfälle reagieren will. Aber sie wolle auch präventiv dafür sorgen, dass es gar nicht soweit kommt.

Weshalb wissen Sie das?

Schoppig: Ich leite beim Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund den Bereich Bildung und Prävention. Da habe ich als Reaktion auf den Fall Benjamin ein Projekt entwickelt – in Partnerschaft mit der Armee. Dabei ging es um Sensibilisierung für die Vielfalt innerhalb der Armee. In diesem Kurs wird den jungen Offizieren beigebracht, dass sie reagieren müssen, wenn es zu unschönen Situationen mit Minderheiten kommt. Ich finde es gut, dass die Armee das nicht toleriert.

Wie wird das vermittelt?

Schoppig: Unter anderem in Rollenspielen. Da wird geübt: Wie reagiere ich auf den Satz: «Ich lasse mir von einem Homosexuellen nichts sagen?» Wie reagiere ich, wenn eine Frau mir sagt, der andere habe eine obszöne Geste gemacht? Es gibt keine Musterlösung. Aber es muss den jungen Kaderleuten gesagt werden: «Hey, reagier!» Nichts machen ist da falsch. Sie müssen das Problem ja nicht allein angehen. Es gibt Armeeseelsorger, medizinisches und psychologisch-psychiatrisches Personal, eine ganze Crew, die ihnen dabei helfen kann.

Sind Sie auch ausserhalb der Armee als Seelsorger tätig?

Schoppig: Weniger institutionell, eher spontan. Ich mag Menschen sehr gern. Ich bin sehr vernetzt, organisiere viele Veranstaltungen. Dabei komme ich mit den Leuten ins Gespräch. Einige vertrauen mir dabei auch Persönliches an. Da bin ich jeweils sehr verschwiegen, auch wenn ich ansonsten eher extrovertiert bin. Diese Erfahrung des Zuhörens kann ich nun bald in die Armee einbringen. Darauf freue ich mich.

* Jonathan Schoppig arbeitet beim Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund im Bereich Prävention und Bildung. Er ist zudem Dozent für Wirtschaft an der Fernhochschule Schweiz.

 

Imam und bald Seelsorger in der Armee: «Der Armeedienst lässt sich mit dem muslimischen Leben vereinbaren»

Muris Begovic (41) wirkt bereits als Seelsorger in Spitälern und Asylzentren – und bald auch in der Schweizer Armee. «Dass ich als erster Imam oder Muslim in der Seelsorge tätig sein kann, hat auch einen starken integrativen Charakter», sagt er im Interview. «Muslimische Jugendliche können sich so stärker mit der Schweiz identifizieren.»

Regula Pfeifer (kath.ch): Sie sind in der Ausbildung zum Armeeseelsorger. Haben Sie dabei schon Seelsorge geleistet?

Muris Begovic*: Nein, wir haben noch keine Seelsorge-Einsätze gehabt. Wir machten Rollenspiele anhand von Fallbeispielen. Also jemand spielt den Seelsorger, ein anderer den Ratsuchenden. So übten wir gewisse Situationen.

Sie sind im Kanton Zürich in der Seelsorge für Spitäler und Asylzentren aktiv. Wie unterscheidet sich die Armeeseelsorge davon?

Begovic: Der grösste Unterschied ist: Hier in der Armee bin ich als Armeeseelsorger mit muslimischem Hintergrund für alle da. Ich darf auch Christen und Armeeangehörige mit einem anderen religiösen Hintergrund besuchen. Ich bin während meiner Diensttage da und kann dabei aufsuchende Seelsorge für alle leisten – gleich wie alle anderen Seelsorger.

…und in der institutionellen Seelsorge?

Begovic: In den Institutionen des Kantons Zürich leisten wir Muslime Seelsorge auf Abruf. Wir haben eine Notrufzentrale. Die Institutionen können auf uns zugreifen, wenn es Muslime betrifft. Wir rücken dann aus und betreuen die Musliminnen und Muslime in den Spitälern oder anderen öffentlichen Institutionen. Und dann gibt’s einen weiteren wichtigen Unterschied.

Welchen?

Begovic: Wir tragen alle dieselbe Armeeuniform. Das ist auch ein wichtiger Unterschied. In der institutionellen Seelsorge tragen wir unsere zivilen Kleider.

Haben Sie Militärdienst geleistet vor Ihrem jetzigen Engagement?

Begovic: Ich bin einer jener angehenden Armeeseelsorger, die die dreiwöchige Kurz-RS gemacht haben. Das habe ich letztes Jahr gemacht. Es war eine spezielle Herausforderung, mit 40 noch in die RS zu gehen. Für mich war es bereichernd. Ich konnte miterleben, wie sich das anfühlt, welche Probleme dabei auftauchen können. Dabei fragte ich mich, wie ich das mit meinem Muslim-Sein vereinbaren kann.

Wo war es schwierig?

Begovic: Eine Nachtübung fing am Abend an. Gleichzeitig haben wir Muslime abends eine bestimmte Zeit vorgegeben, wo wir beten sollten. Ich konnte da natürlich nicht die ganze Truppe stoppen und sagen: So, ich muss das Gebet verrichten, ihr müsst jetzt warten. Die Übung geht weiter und ich muss eine Lösung haben: Wie gehe ich damit um? Da bin ich als muslimischer Theologe gefordert, eine Antwort zu geben.

Welches war Ihre Antwort?

Begovic: Sobald Ausnahmesituationen bestehen, werden die Gebote mit Ausnahme behandelt. Der Militärdienst ist eine Ausnahmesituation und dementsprechend habe ich mich auch verhalten.

Gab es weitere Probleme?

Begovic: Ungewohnt war auch, mit fast 20 anderen jungen Männern im selben Zimmer zu schlafen. So fragte ich mich, wo ich denn mein Gebet verrichten könnte. Es funktionierte dann wunderbar im Schlafzimmer. Es gibt immer eine Lösung. Man muss es nur pragmatisch angehen. Ich konnte es vereinbaren, nichts sprach dagegen.

Und beim Essen? Das Fleisch müsste ja halal sein.

Begovic: Ich konnte vegetarisch wählen. Ich musste aber im Voraus mitteilen, dass ich das so brauche.

Haben Sie in Ihrem muslimischen Umfeld gemerkt, dass es Bedarf nach muslimischer Seelsorge gibt?

Begovic: Ja, auf jeden Fall. Das war eine meiner Motivationen, warum ich heute da bin. Es sind immer wieder Anfragen an uns gelangt: Wie soll ich mit dieser oder jener Situation im Militärdienst umgehen?

Dass ich als erster Imam oder Muslim in der Armeeseelsorge tätig sein kann, hat auch einen starken integrativen Charakter. Muslimische Jugendliche können sich so stärker mit der Schweiz identifizieren. Meine neue Aufgabe hat sich in der muslimischen Gemeinschaft schon herumgesprochen. Man sieht mich in diesen Kleidern, wenn ich nach Hause oder zum Freitagsgebet in die Moschee gehe.

Sie besuchen die Moschee in Uniform?

Begovic: Ja, genau. Letzte Woche war Ramadan. Da bin ich zur besonderen Nacht Laylat al-Qadr in Luzern in die Moschee gegangen. Die Leute kennen mich als Imam – und jetzt sehen sie mich plötzlich als Soldat (lacht). Da sind Fragen gekommen – und durchaus nur positive Rückmeldungen.

Ist die Armee ein schwieriger, heikler Ort für Muslime?

Begovic: Nein, überhaupt nicht. Vielleicht hätte ich das vor ein paar Jahren gesagt. Aber durch diesen Lehrgang habe ich erfahren: Die Armee ist ein spezieller Ort. Aber es spricht nichts dagegen, Teil davon zu sein. Der Armeedienst lässt sich mit dem muslimischen Leben vereinbaren. Allerdings sollte man seine Bedürfnisse rechtzeitig anmelden, Verständnis für gewisse Situationen haben und die Prioritäten je nachdem anders setzen. Will jemand stur sein Ding durchsetzen, wird es schwierig. Mit Dialog kann man alles lösen und da möchte und kann ich unterstützen.

Wie sehen Sie die religiös erweiterte Armeeseelsorge?

Begovic: Sie widerspiegelt die Vielfalt, die wir in der Gesellschaft haben. Ich bin froh, dass ich ein Teil dieses grossen Teams bin, in dem wir täglich Neues voneinander lernen und ich mit meinem Hintergrund gleichberechtigt am Geschehen teilhaben kann So kann ich der Gesellschaft auch etwas zurückgeben.

Was haben Sie mitbekommen von den anderen Religionen?

Begovic: Da ich sehr verwurzelt bin im interreligiösen Dialog – etwa in der Seelsorge in Zürich – war mir schon einiges bekannt. Ich lerne aber immer wieder Neues kennen. So bei besinnlichen Momenten unserer christlichen und jüdischen Freunde: Das ist ja ähnlich wie bei uns – wenn nicht sogar fast gleich. Da hat einer in einem spirituellen Beitrag über Jonas berichtet. Und der spielt auch eine wichtige Rolle im Islam. So entstehen schöne Momente.

*Muris Begovic (41) ist Imam und Geschäftsführer der Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich. Zurzeit absolviert er die Ausbildung zum Armeeseelsorger. Im Kanton Zürich ist er bereits in der Seelsorge für Spitäler und Asylzentren aktiv.