«Paulus macht uns harmonischer»

Macht es einen Unterschied, ob ein Kirchenchor oder ein säkularer Chor Mendelssohns «Paulus» singt? «Am Ende verbindet uns die Musik, die uns durchdringt», sagt Dirigentin Lisa May (34). Am Samstag führt sie mit jungen Sängerinnen und Sängern im Zürcher Fraumünster «Paulus» auf.

Raphael Rauch: Wie stellen Sie sich die Paulus-Figur vor?

Lisa May*: Als eine Persönlichkeit, die fürs Gute kämpft und überzeugt ist, das Richtige zu tun. Eine Persönlichkeit, die Stationen mit verschiedenen Gefühlen durchläuft, Fehler macht, Verbrechen begeht, auf Widerstand stösst – aber Fehler auch einsieht, korrigiert und weiterkämpft. Wir können Paulus universal deuten als Figur, die einen krassen Bruch im Leben erlebt. Von einem Moment auf den anderen verändert sich mein Wertehorizont. Plötzlich gibt es im Leben neue Perspektiven, die vorher undenkbar gewesen wären.

Ist die Paulus-Geschichte nicht zu christlich konnotiert, um sie zu universalisieren?

May: Es kommt darauf an. Nehmen wir eine Stelle aus Mendelssohns «Paulus»: «Mache dich auf, werde Licht.» Das ist ein Aufruf: «Wende dich zum Positiven!» Das verstehen alle Menschen. Bei «Paulus» geht es aber noch weiter: «Denn dein Licht kommt und die Herrlichkeit des Herrn gehet auf über dir.» Jetzt kann man natürlich sagen: Das kann man nur christlich deuten. Ich wäre da offener: Die «Herrlichkeit des Herrn» ist eine Möglichkeit, etwas Wahres, Höheres, Absolutes auszudrücken. Das kann Gott sein, könnte aber auch die Vorstellung von Glück oder Vollkommenheit sein.

Hat Musik für Sie etwas mit Religion zu tun?

May: Religion ist ein weites Feld (lacht). Aber Musik durchdringt mich wie kaum etwas anderes. Gerade im Gesang komme ich mit Menschen auf einer ganz besonderen Ebene in Verbindung. Musik ergreift mich, durchdringt den Körper. Der Körper wird zum Instrument: Ich spüre die Schwingungen, bin den Menschen verbunden. Das ist etwas sehr Intensives – und für mich etwas Spirituelles.

Warum ist «Paulus» von Mendelssohn eines der am häufigsten aufgeführten Werke der Chorliteratur?

May: «Paulus» ist für einen Laienchor geschrieben. Beim Singen wird man in eine positive, harmonische Stimmung versetzt. Das haben wir in den Proben gespürt. Nach den Proben waren wir positiv verändert. «Paulus» macht uns harmonischer – davon bin ich fest überzeugt. Dazu trägt nicht nur die Feinfühligkeit Mendelssohns bei, sondern auch sein Gefühl für die Form in der Musik. Und trotzdem verlangt «Paulus» den Sängerinnen und Sängern auch einiges ab.

«Etwas abverlangen» – woran machen Sie das fest?

May: «Paulus» ist mit über zwei Stunden ein langes Stück. Und es ist ein lautes Stück. Mit einem grossen Stimmambitus, also mit hohen und tiefen Lagen. Und es gibt schnelle Wechsel. Die fordern, machen aber auch Spass. Zum Beispiel, wenn man zuerst eine fanatische Meute singt, die Stephanus’ Steinigung fordert – und dann direkt in einen nachdenklichen Choral übergeht: «Dir Herr, dir will ich mich ergeben.» Der Inhalt ist todernst – aber die abrupten Wechsel haben durchaus etwas Unterhaltendes.

Sie führen die Urfassung auf und nicht das, was man normalerweise auf YouTube findet. Was sind die grössten Unterschiede?

May: Die Version der Uraufführung wirkt auf mich kantiger und wechselhafter in den Stilen. Mendelssohn scheint das später etwas abgerundet zu haben. Besonders die Rezitative sind länger und vielfältiger. Es gibt auch eine Arie für den Sopran, die operesk daher kommt. Mich würde interessieren, warum er die nicht mehr wollte.

Was bedeutet «Paulus» für Sie persönlich?

May: Es ist ein grosses Stück Kunst. Ich finde, dass mit solchen Werken die Aufführenden die Möglichkeit haben, über sich hinauszuwachsen. Es gibt das grosse Orchester, die Solisten und den Chor, und das alles verschmilzt zu einem grossen Kunstwerk. Das ist faszinierend. 

Was macht es für einen Unterschied, ob man «Paulus» in einem Kirchenchor dirigiert oder im «Jungen Chor Zürich»?

May: Vielleicht finden nicht alle einen direkten Zugang zum Text. Aber sicher zur Emotion in der Musik. Mich freut es sehr, «Paulus» mit jüngeren Leuten zu musizieren, die alle ganz unterschiedlich denken. Am Ende verbindet uns die Musik, die uns durchdringt.

* Lisa May (34) ist Dirigentin des «Jungen Chors Zürich», der zusammen mit dem Berliner Chor «Cantus Domus» Felix Mendelssohn Bartholdys «Paulus» aufführt – am Samstag, 7. Mai, um 19.30 Uhr im Zürcher Fraumünster.