Peter Kirchschläger: «Sport sollte bei Frieden und Menschenrechten nicht neutral sein»

Nach einem Kampf im Schwingen wischt der Sieger dem Besiegten bekanntlich das Sägemehl vom Rücken. Das ist ein sehr sportliches und vor allem ein menschlich sehr schönes Ritual – das den Sieger die Demut lehrt, und dem Verlierer den Rücken stärkt.

Schliesslich liegen Sieg und Niederlage im Sport eng beieinander. Und jede siegreiche Person kann schnell einmal auf der Verliererstrasse landen.

Handshake nach dem Match

Auch im Tennissport existiert eine ähnliche Geste. Nach einem Tennismatch geben sich zwei Spieler oder Spielerinnen die Hand. Allerdings gratuliert im Prinzip die besiegte Person der Siegerin oder dem Sieger. Das ist natürlich eine etwas andere Stimmungslage – gerade nach einem knapp verlorenen, stundenlangen Match.

Geste des Respekts

Dennoch soll die Geste ebenfalls den gegenseitigen Respekt zwischen den um den Sieg Kämpfenden zum Ausdruck bringen. Sie gehört traditionell zum guten Ton im weissen Sport. Egal, ob in der untersten Liga oder zwischen Profis. Wer sich an diesen Regelcode nicht hält, zieht den Zorn des Gegners und des Publikums auf sich.

So wie jüngst in Paris bei den French Open. Dieses Turnier zählt zu den vier renommiertesten Turnieren der Welt. Wer hier mitspielen darf, gehört zu den Besten. Öffentliche Aufmerksamkeit ist garantiert.

Siegerin brüskiert

Das war auch neulich bei dem Match zwischen der Weltranglistenzweiten Aryna Sabalenka aus Belarus und der Weltranglisten-39. Marta Kostyuk aus der Ukraine so. Zwar verlor die junge Ukrainerin wie erwartet klar gegen die Top-Gesetzte. Doch als die 20-Jährige nach dem Spiel wortlos an ihrer Kontrahentin vorbeiging – ohne ihr die Hand zu geben – wurde sie vom Pariser Publikum gnadenlos ausgebuht. Ein Faux-pas der gröberen Sorte. Eigentlich. Denn sie brüskierte damit die Siegerin.

Aber tat sie das wirklich? Angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine hatten beide Spielerinnen vor dem Spiel bereits auf das gemeinsame obligate Foto verzichtet. Nach dem Spiel verweigerte Kostyuk dann ihrer Gegnerin den Handshake.

«Erst dachte ich, die haben mich ausgepfiffen und war verwirrt», wunderte sich Sabalenka nach ihrem Sieg an der Pressekonferenz.

Die Belarussin nahm ihre Kontrahentin aber auch in Schutz. «Ich denke schon nicht, dass sie das verdient», so die Sportlerin. Sie verstehe, weshalb die Ukrainerinnen dies machen würden, und dass dies nichts Persönliches bedeute.

Sport und Politik trennen?

Sabalenka hatte in den letzten Monaten immer wieder dafür plädiert, Sport und Politik zu trennen. In Paris betont sie, dass sie als Sportlerin nichts für die Situation in der Ukraine machen könne. «Ich habe es oft genug gesagt: Niemand – weder russische noch belarussische Athleten – ist für den Krieg, aber dies liegt nicht in unseren Händen», so die Australian-Open-Siegerin. «Es ist okay, wenn sie mich hasst. Wenn ich könnte, würde ich den Krieg beenden», so die 25-Jährige.

Sozialethiker Peter G. Kirchschläger, Ordinarius für Theologische Ethik und Leiter des Instituts für Sozialethik ISE an der Universität Luzern, findet diese Haltung der Belarussin nicht ausreichend. «Bei so fundamentalen politischen Anliegen wie Frieden und Menschenrechte sollte Sport nicht neutral sein.»

Tennisprofi Aryna Sabalenka habe als global bekannter Tennisstar eine mit ihrer Bekanntheit und Einflussmöglichkeit korrespondierende ethische Verantwortung, sich für Frieden und Menschenrechte zu engagieren, so der Sozialethiker.

«Aus Sicht von Marta Kostyuk tut sie das zu wenig, was sie mit dieser Geste zum Ausdruck gebracht hat», erklärt Kirchschläger. «Das scheint mir vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Angriffskrieges von Russland gegen die Ukraine nachvollziehbar zu sein, denn sie wollte damit nicht unfair sein, sondern ein klares Zeichen gegen diesen Krieg und gegen diesbezügliche Indifferenz setzen. Die Reaktion des Publikums erachte ich als problematisch, da es die schreckliche Kriegsrealität zu wenig berücksichtigt.»

Tennis ist kein Mannschaftssport

Die Zeiten sind offensichtlich moralischer geworden. Zumindest im Tennis – das ja ein Individualsport ist, bei dem keine Nationen aufeinandertreffen. Sondern Individuen.

US-amerikanische Tennisprofis etwa mussten in den 1960-er und 70-er Jahren keine Diskriminierungen auf dem Tennisplatz wegen des Vietnam-Kriegs hinnehmen.

Und auch gegen Gottfried-von Cramm, jenen deutschen Tennisspieler, der in den 1930-er Jahren dreimal im Wimbledon-Finale stand, gab es keine Ressentiments, obwohl Adolf Hitler den blonden Blaublütigen für Nazi-Deutschland stets zu instrumentalisieren versuchte. Der Adelige entzog sich eisern Hitlers Zugriff – soweit es ihm möglich war.

In Zeiten des Ukrainekriegs ist alles anders. «Wenn die Leute in zehn Jahren, wenn der Krieg vorbei ist, darüber nachdenken, was sie da getan haben, werden sie das nicht schön finden», erklärte Marta Kostyuk auf der Pressekonferenz im Hinblick auf jene Zuschauer, die sie ausgebuht haben.

Mord, Vergewaltigung, Plünderungen

Aus Sicht von Kostyuk sind die Aussagen von Sabalenka und anderen Profis aus Belarus und Russland nicht überzeugend genug in Sachen Krieg in der Ukraine. «Ihr solltet die Fragen ändern, die ihr diesen Athleten stellt», riet die 20-Jährige den anwesenden Journalisten in Paris. «Der Krieg läuft seit etwa 15 Monaten und ihr solltet sie fragen, wer diesen Krieg gewinnen soll. Denn ich bin nicht wirklich sicher, dass sie dann antworten würden, dass die Ukraine gewinnen soll», so Kostyuk. Russland und Weissrussland würden Zivilisten erschiessen, Kinder vergewaltigen und Häuser plündern. (kath.ch)