«Viele Beziehungsprobleme beginnen oft damit, weil wir vergessen, dass niemand perfekt ist.»

Valentine Koledoye (53) ist Bischofsvikar im Bistum Basel. Er stammt aus Nigeria und verrät, welche Weihnachtsgeschichte ihm seine Grossmutter erzählt hat.

Raphael Rauch (kath.ch): Wie haben Sie Weihnachten als kleiner Junge in Nigeria erlebt?

Valentine Koledoye*: Nigeria hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert und hat viele Traditionen aus Europa und den USA übernommen. Aber traditionell gibt es keinen Weihnachtsbaum und keine Geschenke, sondern neue Kleider. Ich weiss noch genau, wie wir immer am ersten Weihnachtsfeiertag neue Kleider in der Kirche angezogen haben.

Welche Erinnerungen haben Sie an den 24. Dezember?

Koledoye: Die Eltern und Grosseltern sind auf den Markt gegangen, um Sachen zu kaufen. Und dann wurde den ganzen Tag geputzt. Abends sind wir in den Gottesdienst, der ungefähr drei bis vier Stunden dauert. Im Gottesdienst wird viel getanzt. Dann geht es nach Hause und es gibt Essen bis Mitternacht.

Und der erste Weihnachtsfeiertag?

Koledoye: Es gab ein kurzes Frühstück – und dann sind wir so schnell wie möglich in die Kirche. Und später waren 20 bis 25 Leute bei uns zuhause mit allem, was dazugehört: Ziege und Poulets wurden geschlachtet. Wir Kinder haben gespielt, die Männer unterhalten sich – und die Frauen sind die ganze Zeit am Kochen und Abwaschen.

Findet der Gottesdienst auf Englisch statt?

Koledoye: Ich gehöre zum Yoruba-Stamm, Yoruba ist meine Muttersprache. Die Gottesdienste waren ein Mischung aus Englisch und Yoruba. Die Ansprache und die Predigt sind auf Yoruba, die Lesungen und die Eucharistiefeier auf Englisch.

«Stille Nacht» ist in viele Sprachen übersetzt worden. Auch auf Yoruba?

Koledoye: Ehrlich gesagt ist «Stille Nacht» bei uns gar nicht so wichtig. Wir singen an Weihnachten Geburtstagslieder auf Yoruba. So etwas wie «Zum Geburtstag viel Glück». Wir dürfen nicht vergessen: Weihnachten ist der Geburtstag von Jesus. Wir sollten Weihnachten wie einen richtigen Geburtstag feiern.

Können Sie sich an eine Advents- und Weihnachtsgeschichte erinnern?

Koledoye: Meine Grossmutter hat in der Adventszeit eine Geschichte erzählt, die die Sache auf den Punkt bringt: Die Geschichte stammt aus China und handelt von Perfektion.

Diese Geschichte bekam Valentine Koledoye als kleiner Junge von seinem Grosi zu hören

«Eine ältere chinesische Frau hatte zwei grosse Krüge, die an einer Stange hingen, die sie über ihren Schultern trug. Einer dieser Krüge hatte einen Sprung, während der andere vollkommen in Ordnung war, und die gesamte Menge des Wassers behielt, das die alte Frau in ihnen trug. Am Ende des langen Weges vom Fluss zu ihrem Haus kam der gesprungene Krug dagegen immer nur halbvoll an. 

So geschah das zwei lange Jahre hindurch. Die Frau brachte immer nur eineinhalb Krüge Wasser mit nach Hause. Der Krug, der vollgeblieben war, war sehr stolz auf seine Leistung. Der gesprungene Krug hingeben schämte sich sehr wegen seiner Unvollkommenheit und seines Elendes, und dass er immer nur die Hälfte dessen erbrachte, zu dem er geschaffen worden war. Nach zwei Jahren dessen, was er als bitteres Versagen empfand, sagte er eines Tages zu der Frau am Fluss: ‘Ich schäme mich so sehr über mich selbst, weil der Sprung in meiner Seite das Wasser die ganze Zeit auf dem Weg vom Fluss nach Hause herauslaufen lässt.’ 

Die alte Frau lächelte: ‘Hast du gesehen, dass auf deiner Seite des Weges Blumen wachsen, aber nicht auf der anderen Seite? Ich habe immer von deiner Schwäche gewusst, und darum habe ich diese Blumen auf deiner Seite gesät. Jedes Mal, wenn wir zurückgehen, dann giesst du sie. Zwei Jahre lang konnte ich diese schönen Blumen pflücken und damit meinen Tisch schmücken. Wenn du nicht derjenige wärest, der du bist, müsste mein Haus ohne diese Schönheit bleiben.’»

Was sagt uns die Geschichte?

Koledoye: Der Mensch steht im Mittelpunkt. Viele Beziehungsprobleme beginnen oft damit, weil wir vergessen, dass niemand perfekt ist. Jeder Mensch besteht aus zwei Teilen – dem perfekten Teil und den Fehlern. Sie, Raphael, sind nicht perfekt, und ich bin auch nicht perfekt. Wie das perfekte Gefäss neigen wir dazu, uns nur auf die perfekte Seite zu konzentrieren, während wir die fehlerhafte Seite ignorieren. Dabei können wir aus Fehlern lernen und sie nicht wiederholen. Wir sammeln Erfahrungen aus unseren Fehlern und werden dadurch zu besseren Menschen. Das hilft uns, uns selbst zu verstehen und vielleicht auch, andere anzunehmen.

Und was hat das mit Weihnachten zu tun?

Koledoye: Christus kommt auf die Welt, um uns genau dabei zu helfen. Gott wird Mensch, um an unserer menschlichen Natur teilzuhaben – so, wie wir eben sind. Und genau das feiern wir heute Abend und an Weihnachten! Ich werde in meiner Predigt sagen: «Bedauere keinen Tag deines Lebens. Schlechte Tage geben dir wichtige Erfahrungen, schlimme Tage führen dich zu tiefgreifenden Erkenntnissen. Gute Tage schenken dir Lebensfreude. Traumhaft schöne Tage sorgen für wunderbare Erinnerungen. Nimm jeden Tag so an, wie er ist, und finde Geschenke für dich.»

* Valentine Koledoye (53) ist seit Mai 2020 Bischofsvikar der Region St. Urs mit Sitz in Liestal. Zu dieser Bistumsregion gehören die Kantone Aargau, Basel-Landschaft und Basel-Stadt. Er stammt aus Nigeria.