Editorial

Ist denn Christus zerteilt?

«Ist denn Christus zerteilt?», so lautet die provokante Frage des Apostels Paulus im ersten Korintherbrief. «Natürlich nicht!», würden wir auch heute sofort antworten, doch die Frage, wie viel Vielfalt die Einheit verträgt, durchzieht die Geschichte des Christentums von Beginn an. Bereits im Neuen Testament werden uns eine ganze Reihe an Konflikten geschildert. So hatte das sogenannte Apostelkonzil um das Jahr 45 die schwerwiegende Frage zu lösen, ob jüdische Traditionen für «Heidenchristen» verpflichtend sind oder ob es verschiedene Gebräuche nebeneinander geben kann. Der darauffolgende Werdegang des Christentums ist eine Geschichte fortwährender Abspaltungen. 1054 wurde dafür erstmals das Wort Schisma verwendet, als die Trennung zwischen römisch-katholischer und orthodoxer Kirche durch gegenseitige Bannflüche besiegelt wurde. Beide Kirchen spalteten sich weiter, die katholische nachhaltig in der Reformationszeit.

«Die Spaltung unter uns Christen ist ein Skandal», heisst der Titel eines Buches von Papst Franziskus aus dem Jahr 2017. In diesem Werk betont das Oberhaupt der katholischen Kirche, dass der Kern der Ökumene in der Begegnung liege. Er sieht sich auf einem gemeinsamen Weg mit Christen aller Konfessionen. Kein Papst vor ihm hat sich in ökumenischen Belangen so weit aus dem Fenster gelehnt. Franziskus ist sich jedoch bewusst, dass die Frage der Einheit zuallererst intern geregelt werden muss. Konflikte können auch innerhalb der katholischen Kirche nur durch Begegnung und Diskussion gelöst werden. Aus diesem Grund hat er im Oktober 2021 einen synodalen Prozess für die gesamte Weltkirche angestossen. Damit möchte er einen synodaleren Umgangsstil in der Kirche etablieren. Also kein drittes Weltkonzil in Rom, sondern einen weltweiten Prozess, in dem es darum gehen soll, drängende Themen für Kirche und Christen zu benennen, denn die Kirche muss sich beständig erneuern, sonst veraltet und verstaubt sie. Eine Erneuerung bedeutet immer auch eine Veränderung. Dieser Prozess sollte nun aber keinesfalls so verstanden werden, dass die Kirche sich von ihren Wurzeln, ihrem Fundament wegbewegt. Genau das Gegenteil ist gemeint: Dieser Prozess ist eine Aufforderung zur beständigen Selbstüberprüfung, ob die Kirche eigentlich noch auf dem richtigen Weg und immer noch mit ihrem Ursprung verbunden ist.

Mit konzilianten Grüssen
Reto Stampfli