Editorial

Denken erwünscht

Vor wenigen Tagen geriet ich in Leipzig in ein unerwartetes Gespräch mit einer erfahrenen evangelischen Theologin. Neben anderem ging es dabei auch um die Abwägung, wie viel abfragbares Glaubenswissen für eine Zulassung zur Konfirmation vorausgesetzt werden soll, oder ob es nicht zielführender sei, die jungen Menschen Glaubenserfahrungen machen und besprechen zu lassen. Dabei stellte sich auch die grundsätzliche Frage: Führt Glaubenswissen schlussendlich zum Glauben? Nicht selten wird nämlich das mangelnde Glaubenswissen vieler junger Christen beklagt. Sollte man also aus diesem Grund das Wissen ganz zurückstellen und den ganzen Einsatz auf die Karte «persönliche Erfahrungen und Gefühle» setzen? Braucht es – ähnlich wie in den rein weltlichen Bereichen – eine religiöse Seminar- und Kuschelkultur, damit der anspruchsvolle und reizüberflutete Mensch überhaupt noch angesprochen werden kann? Lockt man mit anregendem «Gruppen-Feeling», jedoch frei von religiöser Bildung und intellektueller Anforderung, junge Menschen an, die sich dann später in die erwünschte Richtung entwickeln? Meine Gesprächspartnerin, eine ausgewiesene Kennerin des Philosophen Immanuel Kant, redete sich so richtig in Fahrt.

Auch ich habe die grundlegende Erfahrung gemacht, dass ohne persönliche Beziehung zu Gott und zu Jesus Christus das theologische Wissen keine grössere Bedeutung hat als zum Beispiel das Wissen über geschichtliche Ereignisse. Dieses kann spannend, interessant und mitunter unterhaltsam sein, hat aber für das persönliche Leben wenig Bedeutung. Andererseits ist im Hinblick auf die persönliche Beziehung zu Gott das Wissen um religiöse Zusammenhänge eine nötige Voraussetzung. Die wohlwollende Anleitung und Ermutigung zu kritischem Denken ist in diesem Prozess von grosser Tragweite. Dies hilft, von teils archaischen und manchmal auch primitiven Formen der Religionsausübung zu befreien. Es hilft auch, nicht auf moderne Ersatzreligionen hereinzufallen, die auf vielfältige Weise blühen und das Vakuum zu füllen trachten, das in den letzten Jahren entstanden ist, denn Wissen allein macht nicht selig, doch auch Unwissenheit führt nicht zum Ziel.

Mit freundlichen Grüssen                             

Reto Stampfli