Schwerpunkt

Der «heilige Tausch»

von Reto Stampfli

Die Begeisterung für Weihnachten ist vielerorts nur noch rein materiell begründet. Konsum und ­Kommerz stehen oft im Vordergrund. Doch wo liegt eigentlich der Kern der weihnächtlichen ­Botschaft? Es kann bereichernd sein, sich an den biblischen Ursprung des Festes zu erinnern. 

Der Berliner Schriftsteller und Gesellschaftskritiker Kurt Tucholsky hat sich vor gut 90 Jahren seine Gedanken zu Weihnachten gemacht. In seiner unnachahmbar pointierten und kritischen Art kommt er zum Resümee: «Alle feiern Weihnachten, weil alle Weihnachten feiern» und prägte damit ein Bonmot, das bis heute herumgereicht wird. Seine Einschätzung klingt zweifellos ernüchternd und wenig hoffnungsvoll. Nichts vom grossen Fest der Freude, der Ankunft des Christkinds oder von behaglichen Stunden im Familienkreis; nein, es riecht nach Gruppenzwang, Konsum und einem sinnentleerten Brauch.

Konsum und Kitsch
«Alle feiern Weihnachten, weil alle Weihnachten feiern.» Da muss man unweigerlich auch die Frage stellen: Wie hat Tucholsky selber Weihnachten gefeiert und erlebt? Darüber ist leider sehr wenig bekannt, aber wir wissen, dass er kein Weihnachtshasser war. In seinem Gedicht «Weihnachten» schreibt er: «Nikolaus der Gute, kommt mit einer Rute, greift in seinen vollen Sack – dir ein Päckchen – mir ein Pack. Ruth Maria kriegt ein Buch und ein Baumwolltaschentuch, Noske einen Ehrensäbel und ein Buch vom alten Bebel, sozusagen zur Erheiterung, zur Gelehrsamkeitserweiterung.» Er beschreibt eine wahllose Geschenkflut sondergleichen. Ohne Tucholskys persönliche Situation genau zu kennen, müssen wir dem kritischen Zeitgeist zugestehen, dass er mit seinen Worten nicht unrecht gehabt hat, denn schon damals war vieles rund um Weihnachten instrumentalisiert und ohne Freude durchorganisiert. Die Kaufhäuser berieselten die Kundschaft mit zuckersüssen Klängen, viel künstlichem Licht und einem unübersehbaren Berg an materiellen Gütern. An Weihnachten wurde und wird noch immer in vielen Branchen unserer Wirtschaft das Geschäft des Jahres gemacht. Sicher gab es auch schon vor 90 Jahren viele Unstimmigkeiten und Streit in Familien rund um die Weihnachtszeit. So manche Hoffnung fand an Heiligabend keine Erfüllung, so manch gut gemeinte Absicht wurde falsch verstanden. Genau so wie in der heutigen Zeit mussten auch nicht wenige Menschen das Fest der Freude alleine verbringen.
 

Ein Kind im Mittelpunkt
«Alle feiern Weihnachten, weil alle Weihnachten feiern.» Vielleicht hat sich jedoch Kurt Tucholsky auch andere Gedanken gemacht und mit seiner spitzen Bemerkung darauf hinweisen wollen, dass Weihnachten eigentlich ein sehr tief verwurzeltes Fest der Freude sein könnte. Ein Fest, das weiter geht, als teure Geschenke zu kaufen und sich von einem üppig gedeckten Tisch zum anderen zu schleppen. Ein Fest, bei dem der alltägliche Rummel für einen erfüllten Moment lang stillsteht und jeder einzelne Mensch in seiner Kreativität gefragt ist. Doch was ist Weihnachten eigentlich? Schlicht und einfach auf den Punkt gebracht: Ein Fest, bei dem ein Kind im Mittelpunkt steht. Es geht nicht um einen Superstar oder eine gefeierte Berühmtheit. Es ist keine Megashow vor Millionen von Zuschauern; nein, im Mittelpunkt steht das Christkind in seiner Krippe, in einem kalten Stall, besucht von Hirten; irgendwo am Ende der Welt. Keine Scheinwerfer – nur Sternenlicht; keine aktuellen Schlagzeilen und ein Heer von Reportern – nur eine Geschichte, die in einem alten Buch erzählt wird und deren historische Details keine tragende Rolle spielen.

Doch was kann uns nun dieses auffällig unauffällige Ereignis, diese bescheidene Szenerie für unseren Alltag sagen? Wie kann Weihnachten in unser Leben hineinscheinen? Kann uns diese 2000 Jahre alte Geschichte überhaupt noch etwas bringen? Wir leben in einer Zeit des schnellen Fortschritts, in einer Zeit der ständigen Reformen, in einer von den Naturwissenschaften geprägten Epoche, in einer Zeit, in der Zeit viel Geld kostet. Was soll man da mit einer Geschichte, in der ein noch nicht einmal eingeschultes Kleinkind die Hauptrolle spielt, in der unproduktive Hirten als erste am Schauplatz erscheinen, sämtliche biologischen und physikalischen Gesetze missachtet werden und das Wort «Reformen» noch nicht einmal erfunden ist. Mehr als wehmütige Nostalgie scheint hier nicht vorhanden zu sein, ein nur kurz anhaltendes Gefühl von längst vergangenen besseren Tagen. 

Ein «heiliger Tausch»
Doch die biblische Weihnachtsgeschichte schenkt dem Materiellen keine Beachtung und weist unvermittelt auf das Wesentliche hin: Das Menschsein in seinem Urzustand. Sie handelt von einem Kind, das uns jedes Jahr wieder einen Neuanfang ermöglicht. Dieses wundersame Kind steht für die vielen Dinge, die uns durch das ganze Jahr hindurch geschenkt werden. Seien es wohltuende Begegnungen mit anderen Menschen, persönliche Momente der Freude und des Erfolgs oder ein überzeugter Einsatz für eine gute Sache. Im Blick auf alle diese Geschenke kann Weihnachten zu einem Fest der Dankbarkeit und Freude werden. Ein Fest, bei dem wir unsere Dankbarkeit zeigen und das Wesentliche unseres Menschseins feiern können: die Gemeinschaft mit anderen – gemeinsame Gefühle der Freude und Zufriedenheit. Die Ausführungen zu Weihnachten sind jedoch heute nicht selten beherrscht von einer zurückhaltenden Auslegung des zentralen theologischen Inhalts. Die Menschwerdung Gottes wird gern in die zweite Reihe verdrängt und deshalb in ihren Konsequenzen kaum weiterverfolgt. Es wird zwar verkündet, dass Gott unter ungünstigen Umständen Mensch geworden ist, doch wer hier stehen bleibt, verschweigt die Sinnspitze von Weihnachten und kommt nicht aus dem Rührseligen heraus. Die Inkarnation, die Menschwerdung, ist das verblüffende Festgeheimnis von Weihnachten, sie ist, mit einem Bild aus der mittelalterlichen Theologie gesprochen, ein «heiliger Tausch»: Gott wird Mensch, damit der Mensch die Möglichkeit erhält, sich Gott anzunähern, Gott ähnlich zu werden. Dieses Erlösungsgeschehen, das Luther als «fröhlicher Wechsel» bezeichnete, bildet den Kern des christlichen Glaubens. Das ist ein unerhörter Vorgang, der in der ganzen Religionsgeschichte seinesgleichen sucht. Ein Gott, der sich auf Augenhöhe mit den Menschen begibt. Die Geburt Jesu ist deshalb ein herausfordernder, aber auch ein höchst kreativer Akt, denn hier beginnt der irdische Werdegang von Jesus, hier wird der Sohn Gottes in die Welt hineingeboren, eine Welt, die ihn selten mit offenen Armen empfängt oder mit den Worten des Philipperbriefs gesprochen: «Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäusserte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.»  

Das Wort vom Tausch hat seinen festen Platz im Gabengebet der Weihnachts­liturgie: «Allmächtiger Gott, in dieser heiligen Nacht bringen wir dir unsere Gaben dar. Nimm sie an und gib, dass wir durch den wunderbaren Tausch deinem Sohn gleichgestaltet werden, in dem unsere menschliche Natur mit deinem göttlichen Wesen vereint ist. Darum bitten wir durch ihn, Christus, unseren Herrn.»