
Reto Stampfli | Chefredaktor-Stellvertreter
Editorial
Vom KGB-Agent zum «Wunder Gottes»
Artem Rybchenko, der ukrainische Botschafter in der Schweiz, zahlreiche Kirchenvertreter, darunter auch Bischof Felix Gmür und politische Wortführer, haben den orthodoxen Patriarchen von Moskau, Kyrill I., eindringlich aufgefordert, sich auf das christliche Friedensgebot zu besinnen und sich für ein Ende des Kriegs einzusetzen. Ob dieser Aufruf etwas bewirken kann, ist zu bezweifeln, denn der Vorsteher der russisch-orthodoxen Kirche hat andernorts den Einmarsch in die Ukraine als «einen Kampf gegen die Sünde» bezeichnet. Wieder einmal hantiert eine kirchliche Autorität im Angesicht eines lodernden Feuers mit Brandbeschleuniger anstatt mit Löschwasser. Ein Umstand, der in der Weltgeschichte leider Regelmässigkeit beansprucht, den man jedoch beim aktuellen Konflikt leicht übersehen könnte. Wladimir Putin, der ehemalige KGB-Agent, und Religion, das scheinen auf den ersten Blick zwei Paar Schuhe zu sein, denn der sowjetische Staatskommunismus und sein Machtapparat zeigten für religiöse Phänomene kein Gehör und liessen Tausende Kirchen einreissen. Umso erstaunlicher ist es, dass unter Putin die pompöse Christus-Erlöser-Kathedrale im Herzen Moskaus wiederaufgebaut wurde. Im Verlauf seiner Karriere sah sich der Ex-Spion immer mehr in der Rolle des missionarischen Retters Russlands und Bewahrers der christlichen Werte. Die deutsche Slawistin und Russland-Expertin Katja Gloger bemerkt dazu: «Der in den ersten Jahren eher pragmatische Putinismus wurde nun zunehmend ideologisiert. Dazu wurden Feindbilder aus sowjetischer Zeit ebenso wie Sehnsüchte nach imperialer Grösse und vor allem ein russisch-orthodoxer Nationalismus mobilisiert.»
Zu Stalins Zeiten wäre diese pro-kirchliche Haltung einem Todesurteil gleichgekommen; im heutigen Russland stellt sie eine Win-win-Situation dar. Die orthodoxe Kirche tritt augenfällig als Mittlerin zwischen den alten Traditionen und der russischen Wiedergeburt auf. Putin bekannte sich früh öffentlich zum orthodoxen Christentum und festigte sich damit seine Popularität unter den Frauen, seinen Stammwählerinnen. «Noworossija», der einheitliche Kulturraum slawisch-orthodoxer Russen – zu dem nach Putins Verständnis auch die Ukraine gehört – baut auf Orthodoxie, Autokratie und Nationalität. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass aus dem linientreuen KGB-Offizier ein Kirchenfreund wurde, der 2012 von Kyrill I. sogar zum «Wunder Gottes» erhoben wurde. Darum würde es auch verwundern, wenn der Patriarch von Moskau Putins menschenverachtendes Vorgehen nur mit einer einzigen Silbe kritisieren würde.