Schwerpunkt

Demut

von Reto Stampfli

Demut galt im christlich geprägten Abendland als hohe Tugend, doch dann verlor der Begriff an ­Bedeutung. Heute erlebt er ein Comeback in den unterschiedlichsten Lebensbereichen. ­Demut mag verstaubt sein, an Wirkung hat sie jedoch nichts verloren.

Es fällt auf, dass das Wort «Demut» im öffentlichen Diskurs wieder häufiger verwendet wird. Als zum Beispiel die Corona-Pandemie den internationalen Fussballbetrieb aushebelte und Gehaltsverzicht und Solidarität in den Vordergrund rückten, sprach man von einer «neuen Demut im Profisport». Mit «Demut» wird in der Politik ein zweifelhaftes Wahlergebnis entgegen­genommen. Wenn in der Wirtschaft bei ­einer Restrukturierung die Gürtel enger geschnallt werden müssen, hat nicht selten der positiv konnotierte Begriff «Demut» seinen Auftritt, um die zu erwartenden Entlassungen und Lohneinbussen zu entschärfen. «Demut» als Begriff ist beinahe täglich in unserem politischen, kulturellen und religiösen Leben präsent. Haben wir es hier mit der Wiederkehr einer christlichen Tugend zu tun oder bedient man sich allenthalben eines sinnentleerten Wohlfühlwortes? 

PAULUS ALS WEGBEREITER
Demut ist eigentlich eine Provokation für das Selbstverständnis des modernen Menschen. Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) bezeichnete die Demut in seinem Werk «Zur Genealogie der Moral» als ein «gefährliches, verleumderisches Ideal, hinter dem sich Feigheit und Schwäche, daher auch Ergebung in Gott» verbirgt. Für den Kirchenlehrer Augustinus (354–430) stellte sie hingegen nicht weniger als die «Mutter aller Tugenden» dar. Wenn wir in den etymologischen Keller steigen, finden wir den begrifflichen und konzeptionellen Ausgangspunkt für den Begriff «Demut» beim altgriechischen  ταπεινοφροσύνη (lateinisch humilitas = Niedrigkeit, geringe Bedeutung, Bescheidenheit) und ganz klar bei Paulus. In seinem allerletzten Brief aus römischer Haft forderte der Apostel von der Gemeinde im griechischen Philippi: «… dass ihr eines Sinnes seid, einander in Liebe verbunden, einmütig und einträchtig, dass ihr nichts aus Ehrgeiz, nichts aus Prahlerei tut. Sondern in Demut schätze der eine den anderen höher ein als sich selbst» (Philipperbrief 2,2–3). Paulus ruft die Christinnen und Christen in der noch jungen Gemeinde auf, das uneigennützige Miteinander in der Nachfolge Christi ins Zentrum ihres Wirkens zu stellen. Dadurch erhält der Begriff «Demut» ein völlig neues und strahlendes Image. Im Gegensatz dazu wurde in der hellenistischen Kultur die Demut grundsätzlich nicht als positiver Wert verstanden und mit «kriecherisch schmeichelnd» gleichgesetzt. Dieser Vorgang war nichts Neues: Unter christlichem Einfluss wurden in der griechischen Sprache immer wieder neue Begriffe geprägt oder bereits gebrauchte Begriffe änderten ihren Sinn. 

UNVOLLKOMMENHEIT
Demut als christliche Grundhaltung hat das Leben und die Lehre des Apostels Paulus wesentlich geprägt. Sein Verständnis von Demut ruht voll und ganz in Jesu Wirken und im Alten Testament. Dabei geht es um die offene und erwartende Haltung Gott gegenüber, die sich nicht nur auf eigenes Können und eigenen Verstand verlässt. So wurde die Demut im Mittelalter zu einer hohen christlichen Tugend. Diese Entwicklung findet auch im althochdeutschen Wort «­thiomuotī» (Bescheidenheit, Bereitschaft zum Dienen) ihren Ausdruck. Im Zentrum steht das Verhältnis des demütigen, schwachen Menschen zum allmächtigen Gott. Grundlage für die Demut ist in der Bibel jedoch nicht, dass der Mensch vor Gott keinen besonderen Stellenwert hat; vielmehr steht die einzigartige Würde des Menschen als Gottes «Ebenbild» im Zentrum. Doch das menschliche Tun und Walten kennt klare Grenzen. Darum wird der Mensch in der Bibel immer wieder zur Demut aufgefordert, da das menschliche Denken durch die Sünde «verfinstert» wird (vgl. Römerbrief 1,21). Der Mensch wird zwar als Gottes «Ebenbild» bezeichnet, er ist jedoch in seinem Denken und Handeln nie «göttlich». Er ist als Gottes Schöpfung und in seiner Unvollkommenheit auf Gott angewiesen. 

DEMUT IM 21. JAHRHUNDERT
In einem Interview mit dem deutschen Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» aus dem Jahr 2012 liefert der deutsche SPD-Politiker Wolfgang Thierse eine aktuelle und theologisch einwandfreie Definition: «Demut ist das Bewusstsein von der Erbarmungswürdigkeit des Menschen. Das Bewusstsein, dass man Fehler und Irrtümer begeht und darauf angewiesen ist, dass einem andere verzeihen und vergeben und man selbst dazu bereit ist. Eine tiefere Einsicht in die Fehlbarkeit der eigenen Person. Und das Gefühl der Dankbarkeit für das, was gelingt.» Demut ist somit die Grundlage, dass der Mensch seinen Nächsten nicht aus den Augen verliert. In christlicher Sicht wird diese Mitmenschlichkeit durch die Öffnung hin zu göttlicher Führung vervollständigt und kann auch als probates Gegenmittel gegen menschlichen Grössenwahn dienen. Der Mensch ordnet sich selbst in das Weltgeschehen ein, mit einem Blick in die Sphäre des Übernatürlichen. Diese Tugend der Ergebenheit steht, wenn man sie wirklich ernst nimmt, ziemlich schräg in unserer exzessiven Leistungsgesellschaft. Rund zweihundert Jahre nach der Aufklärung hat der Mensch diese Haltung vielerorts dem himmlischen Diktat entrissen. Umso erstaunlicher ist es, dass die Demut eine Renaissance feiert. Doch von einer Renaissance der Religion sind westliche Gesellschaften weit entfernt. Und doch macht sich etwas breit, das der kanadische Philosoph Charles Taylor schon vor 30 Jahren in «Unbehagen an der Moderne» beschrieb: «Das Gefühl, die Emanzipation von einer höheren Instanz habe nicht nur zur Befreiung des Menschen geführt, sondern auch eine Lücke hinterlassen, einen Mangel an moralischer Verbindlichkeit.»  
 

DREI STUFEN DER DEMUT
Nach der erfolgreichen Selbstermächtigung in der Moderne steigt der Wunsch nach einer neuen Selbstverpflichtung gegenüber Werten wie Solidarität, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit. Wer aber seine Demut zur Schau stellt, der ist eigentlich nicht demütig. Der Wunsch nach einer neuen Form von Demut ist jedoch allgegenwärtig. Der Religionsphilosoph und Theologe Romano Guardini (1885–1968) erwähnt drei Stufen der Demut, die für ihn ein Lebensfundament bildeten: «Die erste Stufe ist Bescheidenheit, welche sagt: Andere sind auch noch da und sind in gewissen Dingen vielleicht besser als ich.» Der Bescheidene schätzt das Wirken der Anderen, ist aber auch von seinem eigenen Wert überzeugt. Er hat es nicht nötig, sich vorzudrängen und sich zu profilieren. In diesem Zusammenhang ist Demut die Abwesenheit von übertriebenen Ansprüchen an andere, gepaart durch eine ungekünstelte Aufmerksamkeit für sie. Guardini fährt weiter: «Ihre zweite Stufe ist das Stehen in der Wahrheit, über welche die eigene Person sich selbst vergisst.» Hier zeigt der Demütige sein wahres Gesicht: Er unterstellt sich der wirklichen Lage der Dinge und den Erfordernissen der Situation. Er kann von sich, seinen Stimmungen und Interessen absehen und so seine Mitmenschen und ihre Bedürfnisse verstehen. Im Englischen zeigt sich das eindrücklich im Wort «under-stand». Die dritte Stufe der Demut ist nach Guardini «die Liebe, die jene heilige Bewegung mitvollzieht, in welcher der grosse Gott sich ins Kleine, Irdische hinabgeworfen hat». Somit ist er ganz bei Paulus, der Gottes Menschwerdung in Jesus und unsere Ausrichtung darauf als die Basis jeglicher Demut erkannt hat. Einen wichtigen Aspekt wahrer Demut erläuterte Jesus erstaunlicherweise durch das Beispiel eines Kindes, indem er sagte: «Wer nun sich selbst erniedrigt und wird wie dies Kind, der ist der Grösste im Himmelreich» (Matthäus 18,4). Jesus zeigt, dass wir das Auftreten und die Geisteshaltung eines Kindes haben müssen, nicht kindisch, jedoch eine Haltung ohne Heuchelei: aufrichtig, wissbegierig, empfänglich, lernwillig.