Editorial

Fünf einfache Regeln

«Ich bin ein Leerer und kein Lehrer», mit diesen sonderbaren Worten wurde ich vor ein paar Jahren von einem älteren Jesuitenpater in einem Kurs zur christlichen Lebensführung begrüsst. Zuerst konnte ich dem Kursleiter nicht folgen und lachte wie bei einem guten Witz; erst zwei Tage später begriff ich, was er mit dieser merkwürdigen Aussage eigentlich gemeint hatte: Er sah es als seine erste Aufgabe, den Teilnehmenden den Kopf zu leeren, und auf keinen Fall ihnen neue Wissensinhalte zu lehren. Der Kurs sollte keine Anhäufung von schlauen Fakten sein, sondern ein Weg hin zur Konzen­tration auf das Wesentliche. 

Für den geistlichen Lehrer bestand das Wesentliche in fünf einfachen Lebensegeln, die er aus der jesuitischen Tradition bezog. Um einen Tag gut bestehen zu können, brauche der Mensch zuallererst ausreichend Schlaf, um zu leben und nicht nur zu funktionieren. Diese Grundvoraussetzung habe gerade in einer Zeit der Dauererreichbarkeit an Bedeutung gewonnen. Als zweite Priorität nannte der Jesuit erstaunlicherweise genug Bewegung, denn alles, was dem Körper hilft, stärke auch die seelische Balance. Schon ein simpler Spaziergang könne kleine Wunder bewirken. Erst an dritter Stelle sprach er von Meditation, Gebet oder Spiritualität. Profan formuliert sei damit gemeint, jeden Tag eine halbe Stunde für sich selbst zu haben, um zur Ruhe zu kommen, damit sich das Tageswerk absetzen und klären kann. Dann betonte er die Wichtigkeit der Beziehungspflege und wies nachdrücklich darauf hin, dass man sich für Beziehungen immer genug Zeit nehmen solle. Es gäbe kaum etwas Schöneres, als ohne konkrete Absichten gemeinsam Zeit zu verbringen. Erst wenn diese vier Regeln in genau dieser Reihenfolge gelebt würden, komme die Arbeit als fünfte Priorität.

Regelmässig kurz vor Jahresende stosse ich auf die Notizen zum erwähnten Kurs und regelmässig frage ich mich, ob das Ganze nicht doch etwas zu einfach gestrickt ist. Doch irgendwie beeindruckt mich diese Einfachheit und regt mich dazu an, mich im neuen Jahr wieder mehr auf das Wesentliche zu konzentrieren. Auch im 2023 werde ich es wieder versuchen.  

Ich wünsche Ihnen einen einfachen Start ins neue Jahr. 


Reto Stampfli