Editorial

Kinder und Narren

Als Lehrer im Fach Religionen muss man auf alles gefasst sein. Nicht selten erlebt man Überraschungen im positiven Sinn. Man darf das religiöse und philosophische Interesse von Schülerinnen und Schülern nicht unterschätzen, auch wenn ihr Vokabular in diesen Bereichen schnell einmal an Grenzen stösst. So stand zum Beispiel im Unterricht der SekP-Klassen die Geschichte von Abraham und Isaak auf dem Programm. Nicht gerade leichte Kost, könnte man meinen. Eine alttestamentarische Episode, die sogar bei Erwachsenen Stirnrunzeln bewirken kann. Abraham, der den drei grossen monotheistischen Weltreligionen als Stammvater gilt, wird im Judentum, im Islam und im Christentum als ein Vorbild im Glauben und Vertrauen in Gott dargestellt; im Gottvertrauen ist er jedoch ein Extremist und bei seiner Opferbereitschaft kann es einem angst und bange werden. 

Doch es erstaunt immer wieder, wie unbeschwert sich die Schüler solchen historischen Monumenten nähern. Kein falscher Respekt oder lähmende Konventionen können den jungen Denkern ein Bein stellen. Vermutlich kroch den Schülern zuallererst ein Schauer über den Rücken, als sie sich vorstellten, wie es ihnen an der Stelle des jungen Isaak zumute gewesen wäre. Vom eigenen Vater das Messer an die Gurgel zu erhalten, das gehört doch schon in den Bereich der äussersten Grenzerfahrungen. Dementsprechend bemerkte auch einer der Schüler, dass eine zünftige Entschuldigung des Vaters den angerichteten Schaden wohl nur teilweise wiedergutmachen könne. Schnell war man sich jedoch in der Klasse einig, dass ja Gott der Urheber der ganzen Situation gewesen sei. Er wollte Abrahams Vertrauen und Glauben auf eine harte Probe stellen, wobei er vermutlich bereits das Resultat vorausgesehen habe. 

«Kinder und Narren sagen die Wahrheit», weiss die Volksweisheit zu berichten. Oft stellt sich jedoch die Frage, ob nicht wir Erwachsenen die eigentlichen Narren sind. Wir verstecken uns regelmässig hinter vorgefassten Meinungen. Kinder kennen die Spiele des gegenseitigen Abtastens noch nicht. Ohne Bedenken wird gefragt, warum dieser dermassen mächtige Gott überhaupt solch extreme Vertrauensbeweise nötig habe. Diese direkte Argumentation eröffnet unerwartete Denkwege, ganz im Sinne der Jesusworte: «Wer das Reich Gottes nicht so annimmt, wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.»

Mit philosophischen Grüssen 
Reto Stampfli