Reto Stampfli | Chefredaktor
Editorial
Atatürks Erben
Die Türkei hat gewählt. Präsident Erdoğan machte Wahlkampf in der Moschee. Sein Herausforderer Kılıçdaroğlu bekannte sich öffentlich zu seinem Glauben als Alevit. Man ist es mittlerweile gewohnt, dass Religion zum Wahlkampf dazugehört. Oft vergisst man dabei, dass die Geschichte der modernen Türkei einen anderen Weg eingeschlagen hatte. In der Theorie ist die Türkische Republik immer noch ein laizistischer Staat. Mit Recep Tayyib Erdoğan spitzt sich eine Entwicklung zu, aufgrund derer muslimische Organisationen wieder an Einfluss gewonnen haben. Die zu erwartenden gesellschaftlichen und sozialen Konflikte werden sich demnächst auch und vor allem auf religiöser Ebene zeigen. Die Chancen, dass sich die politische Situation in der Türkei klären oder sogar lösen lässt, stehen im Moment sehr schlecht. Auch kulturell liegt vieles im Argen. Nach den Wirren des Ersten Weltkriegs hatte es in der ersten Verfassung von 1924 noch geheissen: «Die Religion des türkischen Staates ist der Islam.» Dieser Passus wurde 1928 gestrichen; seither enthält die Verfassung auch keinen Gottesbezug. Der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk strebte keinen herkömmlichen Säkularismus an, der Staat und Religion trennt, sondern den Laizismus Frankreichs aus der Zeit vor 1905, der die Religion aus dem öffentlichen Leben verbannen sollte.
Während der Regentschaft Erdoğans ist dieser sogar für westeuropäische Verhältnisse strikte Grundsatz völlig aufgeweicht worden. Zweifellos ist am Bosporus eine Islamisierung im Gang, was bei realistischer Betrachtung der Entwicklungen der letzten Jahre kaum zu erstaunen vermag. Religion und Politik ist Erdoğans Metier. Er hat den politischen Islam geprägt. Aber das würde heutzutage nicht mehr funktionieren, sind sich westliche Beobachter einig: Die meisten Menschen in der Türkei haben einfach keine Lust mehr auf dieses Schwarz-Weiss-Denken, das damit einhergeht. Letztlich sind 40 Prozent der türkischen Bevölkerung vor allem Muslime, die sich für ihre Religion nicht interessieren, ihren Ritualen nicht folgen und als säkularisiert angesehen werden müssen. Diese Zahl ist stabil und bei der jüngeren Generation eher im Wachsen begriffen.
Mit freundlichen Grüssen
Reto Stampfli